Per Anhalter… zum Baikalsee

geschrieben von am 9. July 2010 um 10:37 pm

Etappe 2: Von Tscheljabinsk nach Omsk – Eine unruhige Nacht

Der Tag beginnt erneut mit einem Fehlstart. Der Bus zum Startpunkt, den mir Misha empfohlen hatte, fährt nur alle 4 Stunden. Ich irre eine ganze Weile in Gazelkas durch kleinere Dörfer am Stadtrand von Tscheljabinsk. Als ich endlich an der Autobahn stehe, ist es bereits Mittag. Die Straße ist an dieser Stelle sehr wenig befahren. Die meisten Autos biegen einige hundert Meter vorher ins nächste Dorf ab. Niemand hält an um mich mitzunehmen. Etwa einen Kilometer weiter hält ein LKW am Straßenrand – der Fahrer verschwindet kurz im Wald. Ich nehme die Beine in die Hand. Als ich den Wagen erreiche steigt der Fahrer gerade wieder auf seinen Bock. Meine Bitte, mich mitzunehmen, lehnt er grimmig ab und fährt los. Umsonst gerannt.

Von dieser Stelle aus ist in der Ferne eine Tankstelle zu sehen und regt Hoffnung in mir. Kommt der Poet vielleicht heute doch noch ans Ziel? Die Tankstelle ist fast menschenleer. Nur zwei LKWs stehen in der Mittagshitze. Im ersten Führerhaus ist niemand zu sehen, aber das zweite verspricht mehr Glück. Bei laufendem Motor sitzt der Fahrer in seiner Kabine und telefoniert, die Tür ist offen. Der Mann ist etwa Ende 40 und braungebrannt. Sein Haar hat bereits deutlich an Fülle verloren, in seinem Mund nur noch wenige Zahnstummel. Als er sein Gespräch beendet hat frage ich, wohin er fährt. Ich muss beinahe brüllen um den laufenden Motor zu übertönen. „Ich will nach Hause.“, sagt er und deutet auf sein Nummernschild. Auf jedem russischen Kennzeichen ist in der oberen rechten Ecke ein zwei- oder dreistellige Nummernkombination zu finden, die Auskunft darüber gibt, aus welchem Gebiet das Fahrzeug stammt. Es gibt allerdings 83 solcher Gebietskennzahlen und zahlreiche weitere Zusatznummern – kurz gesagt, der Poet hatte keine Ahnung, was die Nummer auf dem Kennzeichen des LKWs zu bedeuten hatte. Der Fahrer erkennt meine Ahnungslosigkeit und hilft aus. „Ich fahre nach Kemerowo.“, erklärt er – eine Stadt etwas östlich von Novosibirsk. „Wahnsinn!“, denke ich, das ist genau meine Richtung. „Nehmen sie mich bis nach Omsk mit?“ schreie ich gegen den Motor. Er reagiert abweisend, sagt aber nicht nein. Der Poet wittert seine Chance. Ich verwickle ihn in ein Gespräch. Ein bisschen Smalltalk und dann versuche ich meine „deutschen“ Mitbringsel ins Spiel zu bringen, die ich im Rucksack habe. Den Likör lehnt er ab: „Ich trinke nicht.“ Als ich ihm meinen Kaffee zeige, wird er doch langsam schwach. Nach 20 Minuten habe ich ihn bequatscht – tatsächlich, er nimmt mich mit, fast 1000 Kilometer bis nach Omsk.

Es geht los, meine erste Fahrt in einem LKW – Fabrikat Volvo. Der Fahrer – er heißt Slava – erzählt viel. Ich kann mich ausruhen und muss nur zuhören. Zum Glück haben mich meine ufaer Freunde umfassend in den russischen Schimpfwortschatz eingewiesen. Slava bedient sich dieses Vokabulars sehr großzügig, kein einiger Satz geht ihm ohne Fluch über die Lippen. Hinter uns im Sattelauflieger befinden sich knapp 20 Tonnen Abflussrohre. 20 Tonnen – das ist die Last, die auf russischen Straßen maximal zugelassen ist. An der nächsten Polizeistation am Straßenrand müssen wir über eine LKW-Wage fahren. Was es nicht alles gibt! Die Polizisten winken uns durch – alles in Ordnung.

Über Funk gibt es ab und zu Durchsagen von anderen Fahrern über Polizeikontrollen entlang der Autobahn. Dann ertönt plötzlich eine Frauenstimme. Ich verstehe nicht was sie sagt und frage Slava. Er lacht laut: „Das ist Reklame für einen Puff!“ Die Frauenstimme, die also aus einer etwas speziellen Raststätte irgendwo in der Nähe gekommen war, hatte die Vorzüge des Etablissements aufgezählt und potentiellen Kunden auch noch ein kostenloses Begrüßungsbier versprochen.

Slava kommt mit seinem Truck gerade aus Moskau. Von Kemerowo nach Moskau und zurück, diese Strecke fährt er immer. Früher ist er eine andere Route Richtung Osten bis nach Wladiwostok gefahren. „Zum Glück ist das vorbei“ sagt er. Die Straßen werden dort im Osten immer schlechter und man braucht für eine Fahrt deutlich länger als bis nach Moskau. Auf einer dieser Fahrten hat er auch seine Zähne verloren. „Meine Firma hatte gerade neue Sattelschlepper gekauft und von russischen KAMAZ auf amerikanische Freighliner-Trucks umgestellt.“, erzählt er. Bei einer seiner ersten Fahrten – es war mitten im sibirischen Winter – sei plötzlich die gesamte Elektronik ausgefallen, inklusive der Kabinenheizung. Er hatte von der Firma keine Einweisung bekommen, wie man solch einen Defekt repariert und so ist er in seinem LKW fast erfroren. Irgendwann hat ihm dann doch noch ein anderes Auto geholfen, sonst hätte er weit mehr verloren, als nur ein paar Zähne.

Die Landschaft durch die wir fahren ist sehr flach. Ab und zu gibt es ein paar Tümpel oder kleine fast ausgetrocknete Bäche, Bäume sind nur selten zu sehen. Eine trockene, gelblich-braune Graslandschaft erstreckt sich auf beiden Seiten der Straße bis zum Horizont. Leere Wasserflaschen wirft Slava einfach aus dem Fenster. Meinen bösen Blick kommentiert er mit einem Grinsen. „Das machen hier alle so, das schafft Arbeitsplätze“, rechtfertigt er sich. Wenn hier tatsächlich alle Leute ihren Dreck einfach aus dem Autofenster werfen, dann ist der Straßenrand erstaunlich sauber, denke ich bei mir. Er erzählt von Arbeitslosen die für ein wenig Geld in Bussen hierher gebracht werden und dann den Müll einsammeln dürfen.

Als es dunkel wird, beginnt es zu regnen. Die Qualität der Autobahn verschlechtert sich deutlich, die Straßen werden enger. Ich nicke ständig ein und werde von der holprigen Fahrt durch unzählige Schlaglöcher immer wieder unsanft aus dem Schlaf gerissen. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Die Straße ist durch Regen und Dunkelheit kaum mehr zu erkennen. Und müsste mein Fahrer nicht auch irgendwann mal eine Pause machen? Was ist wenn er am Steuer einschläft? Ich schiele ständig zu ihm hinüber. Nein! Er ist hellwach, fährt sehr sehr sicher und vorsichtig. Ich beruhige mich etwas.“ Schließlich ist das hier sein Job“, mache ich mir selbst Mut, „er wird uns schon heil durch die Nacht bringen.“ Kurz nach Mitternacht stockt mir der Atem. Wir fahren an einem Unfall vorbei. Ein anderer LKW liegt kopfüber im Straßengraben. Über Funk erfahren wir, was passiert ist. Ein blauer Kleinwagen ohne Kennzeichen und Beleuchtung ist vor dem LKW plötzlich auf die Autobahn gefahren. Der LKW-Fahrer hatte versucht auszuweichen und dabei aber die Kontrolle verloren, der LKW hatte sich mehrfach überschlagen. Mit einem Mal ist meine Angst wieder da. Ich bin kurz davor einfach auszusteigen – trotz Regen, trotz Dunkelheit – um dann erst am nächsten Tag im Hellen wieder irgendwie weiterzukommen. Nur Slavas erstaunlich sicherer Fahrstil hält mich davon ab.

In der nächsten Kleinstadt halten wir kurz an einer Tankstelle um Wasser zu kaufen. Als wir wieder einsteigen hält Slava kurz inne. An der Tankstelle steht ein Auto, blau, ohne Kennzeichen, kein Licht. Ist das der Unfallverursacher? Slava versucht noch einmal Informationen über Funk zu bekommen – niemand antwortet. Wir fahren weiter. Ich kann mich vor Müdigkeit nicht mehr auf meinem Stuhl halten und krieche nach hinten, auf eine der Liegen. Als ich aufwache sind wir schon in Omsk. Es ist 5:00 morgens. Slava kocht auf einem kleinen Gasherd in der Kabine Tee, dazu gibt es Kekse und eine Art Salzstangen, nur ohne Salz. Wir quatschen noch eine Weile sehr herzlich. Dann ist es Zeit sich zu verabschieden. Ich schenke ihm den versprochenen Kaffee. Slava druckst etwas herum und fragt dann doch noch nach dem Likör. Von wegen, er trinkt nicht. Für seine Windschutzscheibe bekommt er noch ein kleines Kuscheltier in den deutschen Nationalfarben.

Ich nehme den allerersten Trolleybus an diesem Morgen. Um 6:30 stehe ich bei Roman (meinem Couchsurfing-Host) vor der Tür. Er will gerade zur Arbeit. Kurz zeigt er mir noch die Luftmatratze und das Bettzeug, dann verschwindet er. Ich lasse mich auf die Matratze fallen und schlafe sofort ein.


Per Anhalter… zum Baikalsee

geschrieben von am 7. July 2010 um 7:06 pm

Etappe 1: Von Ufa nach Tscheljabinsk – „Wie dämlich kann man eigentlich sein? Du wirst hier bis morgen früh stehen!“

Um 7:00 klingelt der Wecker. Rucksack und Frühstück sind schon vorbereitet. Kurz nach neun Uhr steht der Poet an der Autobahn M5 und streckt seinen Daumen Richtung Tscheljabinsk in die Höhe. Das Autobahnkreuz ist hier in alle Richtungen dreispurig ausgebaut und die Autos rasen in hohem Tempo vorbei. Schnell ist klar, hier wird niemand anhalten um mich mitzunehmen. Trotzdem versuche ich es noch an einigen anderen Stellen. Vor und hinter der Auffahrt, in der nächsten Kurve – nichts! Nach drei Stunden gebe ich auf. Meine Straßenkarte zeigt noch eine zweite Möglichkeit, auf diese Autobahn zu kommen. Ganz im Norden Ufas gibt es eine Zubringerstraße, vielleicht kommt man von dort besser los.

Mit dem Bus fährt der Poet bis zum Motorenwerk UMPO. Näher kommt man mit dem ÖPNV nicht an die M5. Also: Neuer Versuch – Daumen raus. Und siehe da, es funktioniert. Nach zehn Minuten sammelt mich Albert auf seinem Nachhauseweg ein. Er ist Tatare, Taxifahrer von Beruf und wohnt in einem kleinen Dorf, etwas außerhalb von Ufa, aber direkt neben der Autobahn. Am Eingang des Dorfes steht eine Polizeikontrolle, mehrere Milizionäre tragen Maschinenpistolen um den Hals. Die schwere Bewaffnung der Polizisten fällt mir zwar auf, aber ich frage Albert zunächst nicht danach. Er will wissen, ob ich irgendwelche deutschen Souvenirs bei mir habe. „Selbstverständlich“, denke ich, „mein Rucksack ist voll davon“. Aber ich beschließe ihn noch ein bisschen auf die Folter zu spannen. „Ein paar Kühlschrankmagneten mit Berlinfoto, eine Tasse in den Farben der deutschen Flagge…“ lasse ich Albert wissen. Er ist enttäuscht. „Was hältst du von deutschem Likör?“ Seine Augen leuchten. „Kann ich dir eine Flasche abkaufen?“ fragt er. Ich schenke sie ihm: 0,2 l Wilthener Gebirgskräuter. Am Ende des Dorfes ist wieder eine Polizeikontrolle und erneut sind die Milizionäre mit MPs bewaffnet. Nun frage ich doch nach. „Naja“, meint Albert, „das ist ein besonderes Dorf. Hier sind solche staatlichen…naja…staatliche…“ Er weiß nicht wie er es erklären soll. Oder verstehe ich es nur nicht? Wir sind schon fast an der Autobahn. Ich frage ihn nach einem Interview für Baschkirienheute. Der Sache mit dem abgesicherten Dorf muss ich auf den Grund gehen. Albert zögert erst, stimmt dann aber zu und gibt mir seine Telefonnummer.

Als nächstes nehmen mich zwei baschkirische Brüder mit. Lion und Fail sind beide schon geschieden und zeigen mir stolz Fotos von ihren Söhnen. Lion ist Soldat und in Tschetschenien stationiert. Auf meine Frage nach dem Tschetschenienkrieg sagt er: „Es geht um Öl, um nichts anderes als um Öl.“ Diese Antwort erinnert mich an ein Erlebnis am halleschen Rennbahnkreuz. Im letzten Sommer traf der Poet dort nachts einen gebürtigen Tschetschenen an der Straßenbahnhaltestelle. Auch er hatte mir erzählt, das der Grund für die Kriege in der Kaukasusrepublik allein der Kampf um das Erdöl sei. „Schon wenn man dort einfach nur in seinem Vorgarten buddelt, sprudelt einem das Öl entgegen.“ hatte er gesagt.

Auf meinem Weg nach Tscheljabinsk bin ich inzwischen mitten im Uralgebirge. Traumhaft schöne Birkenwälder säumen die Straße. In den malerischen Tälern liegen süße kleine Dörfer. Ab und zu auch ein Städtchen. Hier reihen sich die Holzhäuser dicht gedrängt aneinander und in der Mitte ragt ein dicker Plattenbauklotz in den Himmel. Man sollte meinen, diese Geschmacklosigkeit aus der Sowjetzeit würde die Postkartenidylle völlig zerstören. Stattdessen finde ich sogar gefallen an diesem Anblick. Es hat etwas interessantes, futuristisches.

Kurz hinter der Stadt Sim setzen mich Fail und Lion an einer Raststätte ab. Es ist kurz nach fünf Uhr am Nachmittag. Etwa ein Drittel der 400 km bis Tscheljabinsk sind geschafft. Ein Restaurant, eine Tankstelle, mehrere kleine Holzbuden, an denen man fast alles kaufen kann, vom Autoersatzteil, über die Anglerausrüstung bis zum Gartenpool. Ein paar Trucker sitzen in der Sonne und genießen ihre Pause bei einer Runde “Nardy” (russische Version von Backgammon). Die vorbeirasenden LKWs wirbeln dicke Staubwolken auf. Mein ausgestreckter Daumen scheint hier wieder niemanden zu interessieren, es hält kein einziges Auto. Nach zwei Stunden beginne ich damit, auch die pausierenden Trucker zu fragen, ob sie mich mitnehmen. Wieder nichts – keiner der LKWs fährt nach Tscheljabinsk. Um 21:00 habe ich mich langsam damit abgefunden, dass ich diese Nacht wohl im Wald, oder im nächsten Dorf schlafen muss. „Was für ein toller Start!“, denke ich bei mir. „Schon an der ersten Etappe gescheitert“, würde der Blogeintrag heißen. Einer der Budenverkäufer winkt mich zu sich. „Wie dämlich kann man eigentlich sein“, macht er mich an, „du wirst hier bis morgen früh stehen!“ An der Tankstelle hält ein Lada. Der Fahrer sieht völlig entnervet aus. Soll ich ihn fragen oder lasse ich ihn lieber in Ruhe? Ich frage. Volltreffer! Der Mann ist furchtbar schlecht gelaunt, aber er fährt direkt nach Tscheljabinsk und nimmt mich mit.

Im Auto sagt er kein Wort. Der Poet schläft ein. Als ich aufwache scheint sich die Laune des Fahrers gebessert zu haben. Er ist Redakteur bei einer tscheljabisnkaer Anzeigenzeitung. Ab und zu stehen dunkle Rauchwolken über den Bäumen. Waldbrände – es hat seit Wochen nicht geregnet. Etwas später essen wir an einer Raststätte Abendbrot. Ich muss auf die Toilette, aber ich traue mich nicht. Was ist, wenn der Mann jetzt einfach ins Auto steigt und mit meinem Rucksack abhaut? Es wird nun schnell dunkel. Die Trasse hat gute Landstraßenqualität, nur manchmal gibt es Abschnitte mit riesigen Schlaglöchern.

Nachts um 1:00 sind wir in Tscheljabinsk. Ich werde noch bis vor die Tür meines Couchsurfing-Hosts gefahren. Ich übernachte bei Misha. Es gibt noch eine Tasse Begrüßungstee und danach falle ich todmüde ins Bett. „Dieser Mann war so nett zu mir“, denke ich vor dem Einschlafen, „er nimmt mich 300 km in seinem Auto mit, fährt mich mitten in der Nacht noch zu meiner Unterkunft und ich kenne noch nicht einmal seinen Namen.


Urlaubspause

geschrieben von am 7. July 2010 um 7:54 am

Die beiden Ufapoeten verschlägt es im nächsten Monat weit weg. Der 3000 km entfernte Baikalsee ist das Urlaubsziel und liegt damit noch einmal genauso weit entfernt, wie Halle von Ufa. Per Anhalter quer durch Sibirien lautet die Devise. Und wenn uns unterwegs kein Bär mit in sein “Gefährt” nimmt, dann folgen im August spannende Geschichten aus dem weiten Russland und vom tiefsten und mysteriösten See der Erde.

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Kein Interview mit Natalja: „Ich muss hier noch ein paar Jahre arbeiten.“

geschrieben von am 30. June 2010 um 2:53 pm

Natalja, die ihren richtigen Namen nicht im Internet lesen möchte, ist Zugbegleiterin und arbeitet schon ihr halbes Leben bei der russischen Eisenbahn. Ihre zwei inzwischen erwachsenen Kinder hat sie allein großgezogen. Zehn Tage Zugfahren, 5 Tage frei und dafür 10.000 Rubel (ca. 260 €) pro Monat – das ist ihr Leben.

„Na, können sie nicht schlafen?“, will sie wissen. Es ist 2 Uhr morgens, irgendwo nördlich von Moskau. Ihre Kollegin kann sich gerade für ein paar Stunden ausruhen. Je zwei Zugbegleiter sind in russischen Fernzügen für die Betreuung eines Wagons zuständig. „Wollen sie an einer Fahrgastbefragung teilnehmen?“, bietet mir Natalja an. Sie stellt ein paar Fragen. „Wie zufrieden sind sie mit dem Zug? Machen wir unsere Arbeit gut?“ Was soll ich sagen? Die Lüftung des Wagons ist kaputt. Tagsüber schmoren die Fahrgäste bei unerträglichen 36 °C. Jetzt in der Nacht sind es immer noch fast 30 °C. Beim Samowar funktioniert die Wasserzufuhr nicht richtig – ständig ist das heiße Wasser alle. „Ja!“, stimmt Natalja zu, „Früher war das alles anders. Da hatten wir immer jemanden, der das repariert hat, aber heute! Heute ist ständig irgendetwas kaputt!“

Und so beginnt sie zu klagen. Die Arbeit ist so furchtbar anstrengend. Fünf Tage am Stück arbeitet sie, 24 Stunden am Tag ist sie im Dienst. Und dafür einen Hungerlohn, von dem sie nicht leben kann. Zum Glück bekommt sie von ihren Eltern Obst und Gemüse aus dem Garten.

Einige ihrer jungen Kolleginnen hätten es richtig gemacht. Sie hätten einen Ausländer geheiratet und wären in die USA oder nach Deutschland gegangen. Aber sie selbst? Nein! Sie ist doch hier zu Hause, was soll sie schon im Westen. Ich frage sie, ob sie nicht bereit wäre, uns ein Interview zu geben und Baschkirienheute über ihr Leben als Zugbegleiterin zu erzählen. Natalja lehnt ab. „Nein!“, sagt sie, „Ich hätte ganz gewiss nichts positives zu berichten und das fänden meine Vorgesetzten gar nicht lustig.“ „Und wenn wir Ihnen einen anderen Namen geben?“, versuche ich es noch einmal. Sie will nicht. „Ich arbeite hier schon so lange, die Leute kennen mich und meine Meinung. Ich muss hier noch ein paar Jahre arbeiten, bevor ich in Rente gehe.“


Ode an die Fanhysterie

geschrieben von am 20. June 2010 um 7:47 pm

Während in Deutschland gerade bei jedem Deutschlandspiel der Fußballweltmeisterschaft die Straßen wie leergefegt aussehen und nach der 90. Minute eine Trötenparade durch jede Stadt zieht, verhält sich der Russe in seiner Fußballeuphorie eher bedeckt.

Als wir Freitagabend beim Deutschland- Serbienspiel voller Vorfreude ein semilautes Partyzelt mit Fernsehbildschirm entdecken, schlugen unsere Herzen höher. Zwischen Schaschlikgrill und Bassanlage kuscheln wir uns in die neu entdeckte Fußballnische. Doch trotz des exklusiven Open-Air- Übertragungs- Angebots blieben wir 5, gerade in Ufa wohnhaften Deutschen allein in unserer Euphorie.

Während wir jubelten und gequält über jeden Fehler des deutschen Teams ächzten, kreisten im Hintergrund im benachbarten Partyzelt die russischen Mädels ihre Hüften, quatschen und interessieren sich nicht die Bohne für das Spiel.

fußball

Nach dem Aus für Klose durch die rote Karte erklangen plötzlich 2 gehässig beglückte Männerstimmen im Hintergrund. Jede verpatzte Torchance für Deutschland wurde lautstark beklatscht – das 1:0 für Serbien gefeiert. Aber handelte es sich bei den 2 einsam jubelnden Männern etwa um Fans des serbischen Teams? Ich zweifle sehr stark daran. Eher tippe ich auf ungehemmte Schadenfreude.

Ein kurzer Rückblick: am 10.10.2009 stehen sich Russland und Deutschland im Vorentscheid zur WM Qualifikation gegenüber.  Deutschland sichert sich nach einem spannenden Duell und dem 1:0 durch Klose den direkten Weg nach Südafrika. Und die Russen? Die fluchten natürlich laut. Auch wir beiden Ufapoeten, die wir uns doch sehr auf eine aufgeregte Meute in den ufaer Sportbars zur WM 2010 gefreut hatten. Aus der Traum… Nun sitzen wir alleine mit unserer kleinen Deutschlandflagge und verfolgen ohne gemeinsame berlin-fanmeile-2Fanhysterie die Spiele.

Den beiden Herren im Hintergrund der Freilichtübertragung bleibt scheinbar statt Anfeuern der eigenen Mannschaft keine größere Genugtuung, als das Necken aller – wenn auch in Ufa gerade wahrscheinlich eher zahlenmäßig unterlegener euphorisierter Fußballfans.

Schade. Dabei macht doch gerade gemeinsame Tröten – und Jubelparade beim Public Viewing viel mehr Spaß.  SCHLAND, SCHLAND! Auch wenn du unsere 5 zarten Stimmchen aus der Ferne kaum hören magst – wir fiebern mit und würden uns beizeiten gerne in einen deutschen voll gefüllten schwarz- rot- gold geschmückten Biergarten mit Leinwand beamen und laut mitgrölen!


Русское Пиво – Russisches Bier

geschrieben von am 16. June 2010 um 9:53 am

Welches Getränk fällt einem als erstes ein, wenn man an Russland denkt? Natürlich Wodka. Das Klischee vom Wodka trinkenden Russen ist wohl das am meisten verbreitete vom diesem Land. Inzwischen sollte sich aber herumgesprochen haben, dass natürlich nicht alle Russen täglich mindestens eine Flasche Klaren vernichten, genauso wenig, wie jeder Deutsche täglich Bratwurst mit Sauerkraut isst und sich dazu ein frisch gezapftes Weißbier schmecken lässt. Trotzdem – jedes Stereotyp hat auch immer einen wahren Kern – hat das Wodkatrinken im größten Land der Erde durchaus Tradition.

DSCN4588Inzwischen hat aber auch Bier stark an Bedeutung gewonnen. Viele ausländische Brauereien haben den diesbezüglich noch lange nicht gesättigten russischen Markt erobert und expandieren weiter. Ebenso gibt es unzählige russische Hersteller, die ihren ausländischen Konkurrenten den Kampf angesagt haben. Am bekanntesten, auch über die Landesgrenzen hinaus, ist wohl die Marke Балтика (Baltika). Pils, Weizen, Starkbier oder Alkoholfrei, all das produzieren auch russische Firmen in zweifellos guter Qualität und Балтика ist damit sogar zur zweitgrößten Brauerei Europas aufgestiegen (nach Heineken).

Ein paar Besonderheiten, vor allem was die „Verpackung“ angeht, gibt es bei russischem Gerstensaft allerdings. Den in Deutschland sehr verbreiteten Bierkasten beispielsweise sieht man hier eher selten. Stattdessen gibt es das Gebräu nicht nur in 0,33- oder 0,5-Liter-Flaschen, sondern auch in weit größeren Füllmengen bis 2,5 Liter. Auch die in Deutschland seit Einführung des Dosenpfandes fast völlig verdrängte gute alte Bierdose hat in Russland überlebt. Ein Pfandsystem nach deutschem Muster ist hier unbekannt.

DSCN4584Für alle Freunde des „frisch Gezapften“ hat Russland noch ein kleines Highlight zu bieten. Es gibt spezielle Geschäfte, in denen man sich eine große Auswahl an verschiedenen Bieren direkt aus dem gekühlten Fass in eine 0,5-, 1- oder 1,5-Liter-Flasche zapfen lassen kann. Was man also sonst nur in der Kneipe oder auf Straßenfesten bekommt, gibt es hier zum Mitnehmen für zu Hause.

Ähnlich wie bei den Sakuzki zum Wodka (der Happen nach dem Schluck), war die russische Küche auch sehr erfinderisch, was kleine Beilagen und Snacks zum Bier angeht. So wird neben den auch in Deutschland bekannten Pistazien oder Chips hier in kleiner Runde z.B. gesalzener Trockenfisch gereicht. Ebenso beliebt sind geröstete und aromatisierte Brotsticks oder ein besonderer, kunstvoll zu einem Zopf geflochtener Räucherkäse.


Mittags-Entertainment

geschrieben von am 11. June 2010 um 5:27 pm

Zurück aus dem Heimaturlaub führt der erste Weg den Poeten zum ufaer Ausländeramt, denn – jeder Ausländer muss sich in Russland mit seiner Migrationskarte (die er bei der Einreise erhält) innerhalb von drei Tagen an seinem Aufenthaltsort registrieren. Vorbildlich, alle Formulare schon ausgefüllt und die fällige Gebühr bereits bezahlt, betritt der Poet um 13:47 – also kurz vor der Mittagspause (14:00-15:00) die Amtsstube. Es handelt sich um einen kleinen stickigen Raum, in dem unzählige winzige Schalter befinden, hinter denen im Idealfall Beamten sitzen, an die man sich dann vertrauensvoll mit seinen Registrierungswünschen wenden kann. Geöffnet waren zwei Schalter. Der Raum war proppevoll…Litauer, Esten, Polen, Kasachen, Turkmenen, viele andere mehr und mittendrin der Ufapoet, alle darauf aus, noch vor der Mittagspause glücklich mit einem Registrierungsstempel wieder hinaus in die strahlende Mittagssonne treten zu können.

Nun galt es zuallererst in dem Gewusel das Ende der Warteschlange zu finden. Mit „Кто последний? Вы последний?“ (Wer ist hier der Letzte? Sind Sie der Letzte?) drängelte ich mich durch die Menge. „Nein, versuchen Sie’s mal dort hinten“, kam die Antwort. Das sollte eine Schlage sein? Sah mir eher nach einem Warteknäuel aus, aber was soll‘s. 13:50. Vor mir noch etwa 5 Leute. Ob das was wird? Abwarten und nur nicht wegdrängeln lassen!

Je mehr sich der große Zeiger der Zwölf näherte, desto unruhiger wurde die Atmosphäre. Ein Mann drängelt sich vor. „Wo wollen sie hin, stellen sie sich hinten an!!“, ruft eine Frau in leicht bissigem Ton. „Ich will nur was fragen“. „Was wollen sie denn fragen? Hören Sie, ich will hier noch vor dem Mittag fertig werden.“ „Ich will nur fragen ob ich das Formular richtig ausgefüllt hab.“ „Zeigen sie mal her!!“ Die Frau überfliegt das Formular des Mannes mit prüfendem Blick. „Alles richtig! Und jetzt stellen sie sich hinten an!“ Mit gesenktem Kopf tritt der Mann ab. „Nein!“, keift die Frau, die ihn begleitet. „Du gehst da jetzt hin und fragst ob das Formular richtig ausgefüllt ist!“. Sie nimmt die Sache selbst in die Hand.

Plötzlich geht es ganz schnell. Von überall wird gedrängelt und geschoben. Die Beamtinnen hinter dem Schalter weisen mehrere Leute wegen fehlender Formulare ab. Noch jemand drängelt sich vor. Eine Frau. Wieder die Frage: „Was wollen Sie?? Stellen sie sich hinten an!!“ „Ich will nur was fragen, geht ganz schnell!“ „Nein!! Sie gehen jetzt nach hinten!“ Sie drängelt weiter, fragt, und schiebt sich zurück. „Sehen Sie! Ich hab doch gesagt es geht ganz schnell”, sagt sie trotzig und mit bebender Stimme. Sie hat Tränen in den Augen.

14:00. Der Siedepunkt ist erreicht. Mehrere Frauen und eine der Beamtinnen beginnen sich anzubrüllen. Unbemerkt haben die Reinigungskräfte mit ihrer Mittagsschicht begonnen und bereits den halben Raum gewischt. „Hey! Wo laufen Sie denn lang?! Da ist schon gewischt! Das hab ich gerade sauber gemacht! Alle raus hier jetzt, es ist Mittagspause. Alle raus!“, schreit die Putzfrau.

Der Poet kann sich ein grinsen nicht verkneifen. Jetzt bin ich dran. Reiche meine Formulare durch das Fenster. Auch die Beamtin muss schmunzeln. Inzwischen haben die Putzfrauen alle anderen gewaltsam aus dem Raum gejagt. Ich bekomme meinen Stempel – als Letzter vor dem Mittag.

Puh! Wieder auf der Straße gönne ich mir zur Belohnung ein Becherchen Kvas. So unterhaltsam habe ich bisher leider noch kein deutsches Amt erlebt.


Ufa – Flugzeugstadt

geschrieben von am 5. June 2010 um 6:54 pm

Eine Seite, die wir von Ufa in unserem Blog bisher noch nicht beleuchtet haben, ist die Bedeutung der Luftfahrt für diese Stadt. Eigentlich ist Baschkortostan ja eher für die Erdölförderung und -Verarbeitung oder seinen köstlichen Honig bekannt. Von der geflügelten Fortbewegung hört man indes eher wenig und so mag es den Besucher der Hauptstadt Baschkortostans verwundern, wenn er an einigen Stellen ausgediente Flugzeuge am Straßenrand entdeckt.

DSCN4331Die Erklärung dafür ist simpel. Zum einen gibt es in Ufa ein großes Werk Namens „UMPO“ (russ. УМПО: Abk. für Ufaer Gesellschaft für Motorenproduktion). Diese Firma stellt hauptsächlich Flugzeugmotoren her und im Jahr 2007 arbeiteten hier noch über 20.000 Menschen. Die anhaltende weltweite Wirtschaftskrise hat aber auch vor UMPO nicht halt gemacht und so rutschte das Unternehmen in den letzten Jahren in die roten Zahlen und tausende Arbeiter verloren ihren Job. Eines der Flugzeuge, die man in Ufa auf offener Straße bewundern kann, steht vor diesem Werk. Mit einem Jagdflugzeug vom Typ Su-27 zeigt UMPO stolz, welche besondere Art von Triebwerken hier hergestellt wird.

DSCN4333Von Bedeutung ist auch die „Staatliche Ufaer Universität für Luftfahrttechnik“. Die hier erbrachten wissenschaftlichen Leistungen haben in Russland durchaus Gewicht. Den Campus der Universität ziert ebenfalls ein ausrangiertes Jagdflugzeug, diesmal vom Typ MiG-19.

In der Nähe des Tatarischen Theaters gibt es ein drittes Flugzeug zu sehen. Es handelt sich um eine Antonov vom Typ An-24. Dieses Modell wurde erstmals 1959 in Dienst gestellt, ist aber heute auf russischen Flughäfen nicht mehr zu finden. Warum die Maschine gerade an dieser Stelle ihre letzte Ruhe fand? Tja, da sind sich auch die Ufaer Flugzeugexperten nicht ganz sicher. „Vielleicht, weil dort gerade ein freier Platz war“, witzelt einer von ihnen.

DSCN4323Einige Ufaer haben das Fliegen auch für sich selbst entdeckt. So gibt es neben dem internationalen Flughafen, der etwas außerhalb der Stadt liegt, noch einen kleinen innerstädtischen Flugplatz namens „Zabelskij“. Hier ist ein Verein von begeisterten Hobbyfliegern zu Hause, die es auch allen Interessierten ermöglichen, einmal selbst ein Flugzeug zu lenken. Ein zehnminütiger Rundflug, bei dem nach kurzer Einweisung jedermann auch völlig ohne Vorkenntnisse einmal den Steuerknüppel übernehmen darf, kostet 1150 Rubel (ca. 30 €). Mehr Infos dazu gibt es unter www.slarb.ru.


geschrieben von am 27. May 2010 um 11:03 pm

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Quelle: DIE ZEIT Nr. 21 vom 20. Mai 2010, S. 4


Poet im Urlaub – Kulturschock rückwärts

geschrieben von am 27. May 2010 um 5:07 pm

Einer der Poeten nimmt gerade ein paar Tage Urlaub und ist zurück in Halle, um sich ein wenig vom anstrengenden Freiwilligenleben zu erholen und seine Liebe zu pflegen. Dabei wundert er sich über so manche Dinge, die den Alltagshallenser wohl eher kalt lassen.

Feiertage sind tatsächlich Feiertage

Erster Tag zurück in der Heimat. Der Poet macht sich frohen Mutes auf den Weg in die Innenstadt um ein paar Dinge zu besorgen. In vollem Bewusstsein, dass an diesem Tag Pfingstmontag ist, kommt ihm der hallesche Marktplatz zwar ein wenig verlassen vor, was ihn aber nur in seiner Meinung bestärkt, dass Halle eben doch ein ziemlich kleines Städtchen ist. Erst als er verdutzt vor der mit einem heruntergelassenen Stahlgitter verschlossenen Buchhandlung steht, geht ihm ein Licht auf. Halle ist zwar klein, aber so verschlafen dann doch nicht. Pfingstmontag ist ein Feiertag und an Feiertagen sind Geschäfte geschlossen und Menschen liegen auf der Peißnitz in der Sonne. Das ist banal, aber in Ufa vergisst man das sehr schnell. Nicht das es in Russland keine Feiertage gäbe, aber sie haben keinerlei Auswirkung auf die Ladenöffnung. Wer Lust hat, sein Geld in Ware umzutauschen, der kann das in Ufa an 366 Tagen im Jahr tun. Einschränkungen dieser simplen Regel sind nur am 1. Januar vereinzelt anzutreffen, wenn Ladenbesitzer es auf Grund der durchzechten Silvesternacht nicht aus dem Bett geschafft haben, oder wenn Chefs in weiser Voraussicht ihren Mitarbeitern für diesen Tag frei gegeben haben.

„Ich bin in 10 Minuten da.“

Dieser Satz ist in Ufa eine sinnleere Floskel, denn es ist in den meisten Fällen völlig unmöglich vorherzusehen, wann man sein Ziel erreicht haben wird. Die Fahrzeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hängt dort von den Launen der Fahrer, dem technischen Zustand der Fahrzeuge und vor allem der aktuellen Verkehrslage ab. Für ein und dieselbe Strecke sind Schwankungen der Fahrzeit um zehn bis fünfzig Minuten keine Seltenheit und über Verspätungen regt sich niemand ernsthaft auf.

Ganz anders dagegen in Halle. Der Fahrplan an der Haltestelle oder der Routenplaner im Internet verraten auf die Minute genau, wann die Straßenbahn an einer Haltestelle ankommen wird. Die Abweichungen betragen im schlimmsten Fall ein mal zwei bis drei Minuten und trotzdem bietet die geringste Verspätung Anlass für ausgeregtes Rentnergeschnatter und allerhand Beschimpfungen des regionalen Verkehrsunternehmens.

Überhaupt scheint Schimpfen, Meckern und Nörgeln in Deutschland Volkssport zu sein. Auf meiner Anreise nach Halle wollte ein Rentnerpaar noch schnell auf einen Regionalzug aufspringen. Omi war schon eingestiegen und Opi kämpfte noch mit Koffer und Bahnsteigkante, als sich die Zugtür zu schließen begann. Natürlich wurde dem Opa von der Tür kein Härchen gekrümmt, denn sie hatte – wie jede andere deutsche Zugtür – ein Sicherheitssystem, dass sie bei jedweder Störung sofort wieder aufspringen lässt. Trotzdem begannen Oma und Opa sogleich damit, sich lauthals über die Unverschämtheit zu echauffieren, dass hier arme alte Leute fast von Zugtüren ermordet werden. Der halbe Wagon stimmte mit ein und man einigte sich darauf, dass man den Zugführer zur Rechenschafft ziehen müsste, wenn er derart verantwortungslos die Türen schließt und dass die Deutsche Bahn ja sowieso der Verursacher grundsätzlich allen Übels sei.

Die Aufregung hatte sich längst gelegt, als eine halbe Stunde später der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle durchkam. Sofort beschwerte sich die Oma über den Beinahe-Exitus ihres Gatten und wenige Sekunden später begann der gesamte Wagon auf den armen Zugbegleiter einzureden. Ich wette, in Russland hätte niemand über einen solchen Vorfall auch nur ein Wort verloren, selbst wenn tatsächlich jemand von einer Zugtür eigeklemmt worden wäre. Man lebt dort einfach ein wenig entspannter.

Sirok und Apfelschorle

Die westliche und die russische Lebensmittelindustrie haben einige Produkte entwickelt, die eigentlich nicht sehr ausgefallen sind, sich trotzdem großer Beliebtheit erfreuen, aber auf der jeweils „anderen“ Seite nicht erhältlich sind. Zwei Beispiele dafür sind Apfelschorle und Sirok. In ufaer Supermärkten gibt es keine Apfelschorle. Ein paar russische Freunde, die in Deutschland einmal Apfelschorle probiert haben, erzählten mir, sie wären erst etwas überrascht gewesen, weil sie dachten, sie hätten normalen Saft gekauft. Von dem Geschmack und der Idee waren sie dann aber doch begeistert.

Genau andersherum ist es mit Sirki. Dabei handelt es sich um eine kleine Süßigkeit – einem Riegel aus Quark mit fruchtiger, schokoladiger und auf jeden Fall süßer Füllung und Schokoglasur. Alle Deutschen die ich kenne und die diese Riegel einmal probiert haben, finden sie unheimlich lecker. Warum also kann man das in keinem deutschen Supermarkt kaufen und warum gibt es in Russland keine Apfelschorle, obwohl diese Dinge doch scheinbar die Gaumen beider Kulturen erfreuen? Es kommt noch hinzu, dass diese Produkte jeweils von Firmen vertrieben werden, deren Lebensmittel man sonst in nahezu jedem Supermarkt auf der ganzen Welt findet – Sirok gibt es von Danone und Apfelschorle von CocaCola.

Käse mit Geschmack

Nicht dass man in Russland nicht gut essen könnte. Die russische Küche ist hervorragend und wer einmal die Gastfreundschaft einer russischen Familie genießen konnte, der wird für den Rest seines Lebens von den Gaumenfreuden schwärmen. Aber ein einfaches Stück Brot oder Brötchen mit Belag ist in Russland schlicht nicht üblich. Dementsprechend ist auch das Angebot an gutem Brot, Käse und Wurst. Die Vorfreude des Poeten auf eine leckere Scheibe dunkeln Brotes, vielleicht sogar mit ein paar Körnern, und obendrauf ein cremiges Stück Camembert, war riesig. Auch die gerade eröffnete Grillsaison lässt das Poetenherz mit echten deutschen Bratwürstchen höherschlagen.

Das Leben in beiden Ländern hat also seine Vor- und Nachteile und wer das eine mag, muss das andere eben lieben lernen.