Per Anhalter… zum Baikalsee

Etappe 2: Von Tscheljabinsk nach Omsk – Eine unruhige Nacht

Der Tag beginnt erneut mit einem Fehlstart. Der Bus zum Startpunkt, den mir Misha empfohlen hatte, fährt nur alle 4 Stunden. Ich irre eine ganze Weile in Gazelkas durch kleinere Dörfer am Stadtrand von Tscheljabinsk. Als ich endlich an der Autobahn stehe, ist es bereits Mittag. Die Straße ist an dieser Stelle sehr wenig befahren. Die meisten Autos biegen einige hundert Meter vorher ins nächste Dorf ab. Niemand hält an um mich mitzunehmen. Etwa einen Kilometer weiter hält ein LKW am Straßenrand – der Fahrer verschwindet kurz im Wald. Ich nehme die Beine in die Hand. Als ich den Wagen erreiche steigt der Fahrer gerade wieder auf seinen Bock. Meine Bitte, mich mitzunehmen, lehnt er grimmig ab und fährt los. Umsonst gerannt.

Von dieser Stelle aus ist in der Ferne eine Tankstelle zu sehen und regt Hoffnung in mir. Kommt der Poet vielleicht heute doch noch ans Ziel? Die Tankstelle ist fast menschenleer. Nur zwei LKWs stehen in der Mittagshitze. Im ersten Führerhaus ist niemand zu sehen, aber das zweite verspricht mehr Glück. Bei laufendem Motor sitzt der Fahrer in seiner Kabine und telefoniert, die Tür ist offen. Der Mann ist etwa Ende 40 und braungebrannt. Sein Haar hat bereits deutlich an Fülle verloren, in seinem Mund nur noch wenige Zahnstummel. Als er sein Gespräch beendet hat frage ich, wohin er fährt. Ich muss beinahe brüllen um den laufenden Motor zu übertönen. „Ich will nach Hause.“, sagt er und deutet auf sein Nummernschild. Auf jedem russischen Kennzeichen ist in der oberen rechten Ecke ein zwei- oder dreistellige Nummernkombination zu finden, die Auskunft darüber gibt, aus welchem Gebiet das Fahrzeug stammt. Es gibt allerdings 83 solcher Gebietskennzahlen und zahlreiche weitere Zusatznummern – kurz gesagt, der Poet hatte keine Ahnung, was die Nummer auf dem Kennzeichen des LKWs zu bedeuten hatte. Der Fahrer erkennt meine Ahnungslosigkeit und hilft aus. „Ich fahre nach Kemerowo.“, erklärt er – eine Stadt etwas östlich von Novosibirsk. „Wahnsinn!“, denke ich, das ist genau meine Richtung. „Nehmen sie mich bis nach Omsk mit?“ schreie ich gegen den Motor. Er reagiert abweisend, sagt aber nicht nein. Der Poet wittert seine Chance. Ich verwickle ihn in ein Gespräch. Ein bisschen Smalltalk und dann versuche ich meine „deutschen“ Mitbringsel ins Spiel zu bringen, die ich im Rucksack habe. Den Likör lehnt er ab: „Ich trinke nicht.“ Als ich ihm meinen Kaffee zeige, wird er doch langsam schwach. Nach 20 Minuten habe ich ihn bequatscht – tatsächlich, er nimmt mich mit, fast 1000 Kilometer bis nach Omsk.

Es geht los, meine erste Fahrt in einem LKW – Fabrikat Volvo. Der Fahrer – er heißt Slava – erzählt viel. Ich kann mich ausruhen und muss nur zuhören. Zum Glück haben mich meine ufaer Freunde umfassend in den russischen Schimpfwortschatz eingewiesen. Slava bedient sich dieses Vokabulars sehr großzügig, kein einiger Satz geht ihm ohne Fluch über die Lippen. Hinter uns im Sattelauflieger befinden sich knapp 20 Tonnen Abflussrohre. 20 Tonnen – das ist die Last, die auf russischen Straßen maximal zugelassen ist. An der nächsten Polizeistation am Straßenrand müssen wir über eine LKW-Wage fahren. Was es nicht alles gibt! Die Polizisten winken uns durch – alles in Ordnung.

Über Funk gibt es ab und zu Durchsagen von anderen Fahrern über Polizeikontrollen entlang der Autobahn. Dann ertönt plötzlich eine Frauenstimme. Ich verstehe nicht was sie sagt und frage Slava. Er lacht laut: „Das ist Reklame für einen Puff!“ Die Frauenstimme, die also aus einer etwas speziellen Raststätte irgendwo in der Nähe gekommen war, hatte die Vorzüge des Etablissements aufgezählt und potentiellen Kunden auch noch ein kostenloses Begrüßungsbier versprochen.

Slava kommt mit seinem Truck gerade aus Moskau. Von Kemerowo nach Moskau und zurück, diese Strecke fährt er immer. Früher ist er eine andere Route Richtung Osten bis nach Wladiwostok gefahren. „Zum Glück ist das vorbei“ sagt er. Die Straßen werden dort im Osten immer schlechter und man braucht für eine Fahrt deutlich länger als bis nach Moskau. Auf einer dieser Fahrten hat er auch seine Zähne verloren. „Meine Firma hatte gerade neue Sattelschlepper gekauft und von russischen KAMAZ auf amerikanische Freighliner-Trucks umgestellt.“, erzählt er. Bei einer seiner ersten Fahrten – es war mitten im sibirischen Winter – sei plötzlich die gesamte Elektronik ausgefallen, inklusive der Kabinenheizung. Er hatte von der Firma keine Einweisung bekommen, wie man solch einen Defekt repariert und so ist er in seinem LKW fast erfroren. Irgendwann hat ihm dann doch noch ein anderes Auto geholfen, sonst hätte er weit mehr verloren, als nur ein paar Zähne.

Die Landschaft durch die wir fahren ist sehr flach. Ab und zu gibt es ein paar Tümpel oder kleine fast ausgetrocknete Bäche, Bäume sind nur selten zu sehen. Eine trockene, gelblich-braune Graslandschaft erstreckt sich auf beiden Seiten der Straße bis zum Horizont. Leere Wasserflaschen wirft Slava einfach aus dem Fenster. Meinen bösen Blick kommentiert er mit einem Grinsen. „Das machen hier alle so, das schafft Arbeitsplätze“, rechtfertigt er sich. Wenn hier tatsächlich alle Leute ihren Dreck einfach aus dem Autofenster werfen, dann ist der Straßenrand erstaunlich sauber, denke ich bei mir. Er erzählt von Arbeitslosen die für ein wenig Geld in Bussen hierher gebracht werden und dann den Müll einsammeln dürfen.

Als es dunkel wird, beginnt es zu regnen. Die Qualität der Autobahn verschlechtert sich deutlich, die Straßen werden enger. Ich nicke ständig ein und werde von der holprigen Fahrt durch unzählige Schlaglöcher immer wieder unsanft aus dem Schlaf gerissen. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Die Straße ist durch Regen und Dunkelheit kaum mehr zu erkennen. Und müsste mein Fahrer nicht auch irgendwann mal eine Pause machen? Was ist wenn er am Steuer einschläft? Ich schiele ständig zu ihm hinüber. Nein! Er ist hellwach, fährt sehr sehr sicher und vorsichtig. Ich beruhige mich etwas.“ Schließlich ist das hier sein Job“, mache ich mir selbst Mut, „er wird uns schon heil durch die Nacht bringen.“ Kurz nach Mitternacht stockt mir der Atem. Wir fahren an einem Unfall vorbei. Ein anderer LKW liegt kopfüber im Straßengraben. Über Funk erfahren wir, was passiert ist. Ein blauer Kleinwagen ohne Kennzeichen und Beleuchtung ist vor dem LKW plötzlich auf die Autobahn gefahren. Der LKW-Fahrer hatte versucht auszuweichen und dabei aber die Kontrolle verloren, der LKW hatte sich mehrfach überschlagen. Mit einem Mal ist meine Angst wieder da. Ich bin kurz davor einfach auszusteigen – trotz Regen, trotz Dunkelheit – um dann erst am nächsten Tag im Hellen wieder irgendwie weiterzukommen. Nur Slavas erstaunlich sicherer Fahrstil hält mich davon ab.

In der nächsten Kleinstadt halten wir kurz an einer Tankstelle um Wasser zu kaufen. Als wir wieder einsteigen hält Slava kurz inne. An der Tankstelle steht ein Auto, blau, ohne Kennzeichen, kein Licht. Ist das der Unfallverursacher? Slava versucht noch einmal Informationen über Funk zu bekommen – niemand antwortet. Wir fahren weiter. Ich kann mich vor Müdigkeit nicht mehr auf meinem Stuhl halten und krieche nach hinten, auf eine der Liegen. Als ich aufwache sind wir schon in Omsk. Es ist 5:00 morgens. Slava kocht auf einem kleinen Gasherd in der Kabine Tee, dazu gibt es Kekse und eine Art Salzstangen, nur ohne Salz. Wir quatschen noch eine Weile sehr herzlich. Dann ist es Zeit sich zu verabschieden. Ich schenke ihm den versprochenen Kaffee. Slava druckst etwas herum und fragt dann doch noch nach dem Likör. Von wegen, er trinkt nicht. Für seine Windschutzscheibe bekommt er noch ein kleines Kuscheltier in den deutschen Nationalfarben.

Ich nehme den allerersten Trolleybus an diesem Morgen. Um 6:30 stehe ich bei Roman (meinem Couchsurfing-Host) vor der Tür. Er will gerade zur Arbeit. Kurz zeigt er mir noch die Luftmatratze und das Bettzeug, dann verschwindet er. Ich lasse mich auf die Matratze fallen und schlafe sofort ein.

Kammentare sind geschlossen.