Per Anhalter… zum Baikalsee

Etappe 4: Von Novosibirsk nach Krasnojarsk – Die erste Nacht im Freien

Beim Frühstück mit Ivan verquatscht sich der Poet bis zum frühen Nachmittag. Die geplanten 750 Kilometer bis Krasnojarsk sind damit bis zum Abend nicht mehr zu schaffen. Als ich dann an der Straße stehe, geht es aber sehr schnell. Nach kurzer Zeit nimmt mich ein Klempner in seinem Mercedes Transporter mit. Seine Stimme ist furchtbar und ich bin froh, wenn er mal ein paar Minuten schweigt. Der Mann freut sich riesig, einen Deutschen mitgenommen zu haben. Das Handbuch für seinen Mercedes ist nur in deutscher Sprache verfasst und so kann er mit den meisten Knöpfen am Armaturenbrett nichts anfangen. Er bittet mich, ihm deren Funktion zu erklären. Als wir beim Regler für die Differentialsperre des Allradantriebs angelangt sind, komme ich doch leicht ins stottern. Es bereitet mir schon einige Mühe mir auf Deutsch vorzustellen, was das eigentlich ist. Es dann noch auf Russisch zu erklären übersteigt die Fähigkeiten des Poeten. Aber mit Händen, Füßen, Gestikulieren und Wörterraten klappt es dann doch irgendwie. Als ich das Handbuch zurück ins Ablagefach schiebe bin ich völlig erschöpft und durchgeschwitzt.

Als nächstes nimmt mich wieder ein LKW mit. Zum ersten Mal fahre ich “KAMAZ” – ein LKW made in Russia. So schlimm, wie mir andere Trucker vorher erzählt hatten ist es nicht – eigentlich ist es überhaupt nicht schlimm. Die Kabine ist etwas weniger luxuriös eingerichtet und man kommt nicht ganz so schnell vorwärts, aber man kommt vorwärts und das ist in diesem Moment alles was ich brauche. Der Fahrer lässt mich an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo heraus. Nur ganz selten hält mal ein Auto, niemand will mich mitnehmen. Nach drei Stunden, es ist bereits 21:00 und ich ziemlich entmutigt, mache ich mich zu Fuß auf die Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht. Der Wald links und rechts der Straße hat ein sehr dichtes Unterholz. Hier ist kein Durchkommen. Unter der Straße führt ein dickes Rohr hindurch. „Das wird es dann wohl sein.“, denke ich, „Na wenigstens ist es dort trocken.“

Dann hält doch noch ein Auto. Ein junger Mann, Ende 20, nimmt mich mit bis ins Zentrum der Stadt Kemerowo. Glück gehabt, aber ich habe trotzdem keinen Platz zum Schlafen. Also beschließe ich die Nacht durchzufahren, so lange es geht. Durch Kemerowo gehe ich zu Fuß. Als ich an die Brücke über den Fluss „Tom“ (nach dem auch die Stadt Tomsk benannt ist) komme, steht dort ein Schild mit der Aufschrift „Gefahrenzone“. Ich stocke kurz. Um zur Autobahn zu kommen muss ich wohl oder übel diese Brücke überqueren. Der Fluss ist hier sehr breit und ich kann nicht die gesamte Brücke einsehen, aber etwas Gefährliches kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Also laufe ich weiter. Etwa in der Mitte der Brücke taucht eine Absperrung auf. Dahinter ist der Bürgersteig mit großen Planen abgedeckt. Hier ist erst vor Kurzem der Gehweg neu betoniert worden. Soll ich doch lieber zurück laufen? Aber wenn der Beton schon trocken ist…? Ich klettere mit einem Bein über die Absperrung und probiere vorsichtig, ob der Untergrund fest ist. Kein Problem. Ich sinke nicht ein, alles scheint ausgehärtet. Ich klettere ganz über die Absperrung und laufe vorsichtig weiter. Nach 300 Metern fängt der Boden unter mir an, sich doch etwas komisch anzufühlen. Noch kann ich nicht sehen warum, die Plane verdeckt die Sicht. Dann beginne ich einzusinken. Mist! Egal, jetzt laufe ich weiter. Ich sinke immer tiefer ein und hinterlasse eine 100 Meter lange Fußspur im frischen Beton.

Den Stadtrand erreicht der Poet erst, als die Sonne schon untergeht. Wieder nimmt mich ein KAMAZ mit, 150 Kilometer bis Mariinsk. Bei der Ankunft ist es bereits 1:00 und stockdunkel. Zu so später Stunde wird niemand mehr anhalten. Ich stapfe durch die Nacht. In der Ferne ist sind die Lautsprecheransagen des Bahnhofs zu hören. Mariinsk ist nur eine kleine Stadt, aber für die russische Eisenbahn von großer Bedeutung. Hier wechselt das Stromsystem in der Oberleitung von Gleich- auf Wechselstrom. Bei jedem Zug, der auf der Transsibirischen Eisenbahn fährt, muss in Mariinsk die Lok ausgetauscht werden. Ich suche nach einem Platz, an dem ich warten kann, bis die Sonne wieder aufgeht. An einer kleinen beleuchteten Bushaltestelle setze ich mich auf die Bank. Regelmäßig fährt eine Polizeistreife vorüber. Dann rauscht plötzlich ein aufgemotzter Lada vorbei, wendet und hält vor der Haltestelle. Aus dem Auto heraus mustert mich die Kleinstadtjugend. Ich bekomme kurz ein mulmiges Gefühl, aber es passiert nichts. Nach wenigen Sekunden fährt der Wagen weiter.

Gegen 4:00 wird es wieder langsam hell. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg, zurück zur Fernstraße. Die Dörfer, durch die ich laufe, sind noch totenstill – zumindest bis der Poet sie betritt. Hinter beinahe jedem Zaun beginnt ein Hund zu bellen, das ganze Dorf kläfft mir nach. Eine halbe Stunde später nimmt mich ein LKW mit. Er hat 29 Tonnen Bananen geladen. Da auf russischen Straßen nur maximal 20 Tonnen erlaubt sind, ist er ausschließlich nachts unterwegs. Um die Polizeikontrollen zu umgehen fährt er oft große Umwege. „Fast 90 Prozent der russischen LKWs fahren so.“, erzählt der Mann am Steuer. Ich nicke ein, hole den fehlenden Schlaf der letzten Nacht nach.

Um 11:00 werde ich am Stadtrand von Krasnojarsk raus gelassen. Immer noch todmüde frage ich eine sehr ärmlich aussehende Kwas-Verkäuferin nach dem Bus ins Zentrum. Sie hilft mir sehr freundlich, verkauft mir einen halben Liter Kwas. Als ich trinken will, sehe ich, dass der Plastikbecher Beulen und Druckstellen – er ist schon einmal benutzt worden. Die Frau sagt: „Trinken sie doch, sie sind bestimmt erschöpft von der langen Nacht.“ Der Poet trinkt und ekelt sich. Hinter der nächsten Ecke feuert er den Becher samt Inhalt in einen Mülleimer. Widerlich!

Krasnojarsk – die Stadt, die auch auf dem 10-Rubel-Schein abgebildet ist – finde ich nicht besonders schön. Ob das ein Grund ist, warum diese Geldscheine gerade russlandweit durch 10-Rubel-Münzen ersetzt werden? Wohl eher nicht. Der Bahnhof ist dann aber doch ganz hübsch. Ich setzte mich auf den Vorplatz und ruhe mich aus, schreibe Postkarten. Aus Krasnojarsk hat mir leider kein Couchsurfing-Host zugesagt. Auch hier habe ich keinen Ort zum Übernachten. Am Nachmittag wird es also gleich weitergehen – die letzten 1050 Kilometer bis nach Irkutsk.

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