Per Anhalter…nach Nizhnekamsk – Tatarstan

Eigentlich hatte sich der Ufapoet das relativ einfach vorgestellt: An die Straße stellen, ein Auto anhalten und losfahren. Ganz so leicht war es dann doch nicht – zum Glück – sondern viel aufregender.

Der Morgen begann bereits mit einem Fehlschlag. Der professionelle Tramper vor meinem inneren Auge hielt vor sich ein großes Pappschild mit dem Namen seines Reiseziels. Also zerschnippelte ich voller Tatendrang einen großen Karton und pinselte auf jede der nun ausgedienten Seitenwände und das Bodenstück den Namen einer größeren Stadt, die sich irgendwo auf dem Weg zwischen Ufa und Nizhnekamsk befindet – „Oktjabrskij“, „Almatevsk“, „Chelny“, sowie mein Reiseziel und für den Rückweg auch „Ufa“.

Kurz vor der Abfahrt führte ich mir noch einen Artikel auf „hitchwiki.org“ zum Stichwort „Russland“ zugute und stolperte über folgenden Satz: „Do not write places names on cardboards – nobody in this country cares to read them.“ „Auch gut“, dachte ich, packte meine Pappschilder trotzdem ein und nahm den nächsten Bus nach Mihajlovka, einem kleinen Dörfchen kurz hinter Ufa, besonders verkehrsgünstig an der Autobahn M 7 gelegen.

Nahe Mihajlovka führt die M 7 nicht nur an einer Tankstelle, sondern auch an einer Polizeistation vorbei – ein paradiesischer Ausgangspunkt für meinen ersten Trampversuch. Die Autos fahren dort nur im Schritttempo vorüber, weil die wachhabenden Beamten emsig jedes Fahrzeug herauswinken, das ihnen irgendwie verdächtig erscheint – und das sind ziemlich viele.

Ein Stück hinter der Polizeiwache standen bereits 3 Tramper, die dort auch auf eine Mitfahrgelegenheit hofften. Ich gesellte mich zu ihnen und beobachtete ihr Vorgehen, konnte aber kein Muster erkennen, nach dem sie entschieden, ob sie einem vorbeifahrenden Auto ihren Daumen entgegenstreckten, oder nicht. Nach etwa zehn Minuten bleib ich dann allein zurück. Meine „Kollegen“ waren erfolgreich gewesen und hatten es sich auf den Beifahrersitzen fremder Wagen bequem gemacht.

„The stage is yours“, dachte ich und reckte – erst etwas zaghaft, dann aber voller Inbrunst – meinen Arm Richtung Straße. Es funktionierte tatsächlich. Nach kurzer Zeit hatten bereits vier oder fünf Autos für mich angehalten. Jedesmal fragte ich den Fahrer, ob er über Oktjabrskij fahren würden, jedesmal schüttelte er den Kopf und ich wünschte ihm eine schöne Fahrt. Nach etwa 20 Minuten hatte ich dann keine Lust mehr, mir die Beine in den Bauch zu stehen. Den Nächsten der anhielt fragte ich, ob er geradeaus fahren würde. Er lachte, ich stieg ein.

Ein netter Baschkire, etwa um die 40 Jahre alt und ein nagelneuer Fiat, so reise ich doch gern – vor allem wenn es nichts kostet. Nachdem wir uns etwa eine Stunde über Gott und die Welt unterhalten hatten, setzte er mich in einem größeren Dorf an einer Kreuzung ab und verließ die Autobahn Richtung Süden. Die erste Etappe war geschafft. Ich hatte keine Ahnung wie weit wir gefahren waren und wo genau ich mich befand, aber das war mir eigentlich auch egal. Es funktionierte!

Einige hundert Meter weiter war wieder eine Tankstelle. Dieses Mal gab es zwar keine Polizeistation, aber es kann ja auch nicht immer alles perfekt sein. Hinter der Tankstelle konnte ich eine Gruppe von ungefähr 15 Personen ausmachen. Als ich näher kam stutze ich. Sie versuchten tatsächliche alle, die vorbeifahrenden Autos anzuhalten. War trampen hier Volkssport?

Ich stellte mich zehn Meter vor die Gruppe. Der Verkehr war hier viel ruhiger als kurz hinter Ufa. Hauptsächlich knatterten große LKWs an mir vorbei, PKWs gab es kaum. Nach fünf Minuten hielt neben mir ein klappriger Pritschenwagen. Ich verzichtete auf jegliche Frage nach der Fahrtrichtung, stieg ein und konnte als Erster der wartenden Tramper meine Reise fortsetzten.

Am Steuer saß ein junger Mann in meinem Alter. Er erzählte viel und ich verstand außer einer Reihe von immer wiederkehrenden Schimpfwörtern fast nichts, sondern nickte ihm nur von Zeit zu Zeit freundlich zu. Als ich erzählte, dass ich über Oktjabrskij und Almatevsk nach Nizhnekamsk fahren wolle, rief er sogleich einen Freund an, der – so meinte mein Fahrer – diese Strecke schon einmal gefahren sei und genau wisse, wie man dort am Besten hinkommt. An der Stelle, an der die Straße nach Oktjabrskij von der M 7 abzweigt stieg ich aus, dankte ihm fürs Mitnehmen und er fuhr davon.

Stille. Leichter Wind, grelle Mittagssonne und nichts als endlose Felder und Wiesen um mich herum. Leise Zweifel machten sich in mir breit. Die Straße, die mir der Fahrer gewiesen hatte, führte nach Süden, im 90°-Winkel von der Autobahn weg. Nizhnekamsk lag aber im Norden. Da weit und breit kein Auto zu sehen war, lief ich los – Richtung Süden. Nach einer guten Viertelstunde waren genau 3 Autos an mir vorbeigefahren. Keines hatte dabei auch nur ansatzweise sein Tempo verringert, geschweige denn angehalten. Die offene Straße war kein guter Platz um eine Mitfahrgelegenheit zu erhaschen, soviel wurde mir schnell klar. Weitere zehn Minuten und drei Autos später hatte mein Instinkt gesiegt: Ich kehrte um. Zurück am der M 7 streckte ich noch 20 Minuten meinen Daumen in die Höhe – auch hier erfolglos. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu Fuß nach einer besseren Stelle zu suchen. Außerorts und aus voller Fahrt würde wohl nie ein Wagen halten. Wieder lief ich los, diesmal Richtung Westen.

Die Umgebung änderte sich kaum. Ab und zu kamen ein paar Ölpumpen in Sicht, die quietschend ihre Arbeit taten. Die Landschaft war etwas hügelig. Bei jedem Anstieg keimte in mir Hoffnung, hinter dem Berg könnte ein rettendes Dorf liegen. Auf jeder Anhöhe Ernüchterung – wieder weit und breit nichts außer Gras. Je länger mein Fußmarsch dauerte, desto weniger glaubte ich daran, an diesem Tag mein Ziel noch erreichen zu können. Über zwei Stunden setzte ich so einen Fuß vor den anderen. Plötzlich riss mich ein kurzer greller Schein am Horizont aus meinen Gedanken. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen. Kein Zweifel, dort fuhren Autos, sogar relativ viele. Die Straße schien senkrecht zur M 7 zu verlaufen. Dort, wo sich beide Wege treffen, musste es also eine große Kreuzung geben. Vielleicht wären die Autos dort eher bereit, den Poeten mitzunehmen?

Weitere drei Viertelstunden lief ich dem Horizont entgegen. Tatsächlich! Eine Kreuzung, zwei Tankstellen und ein Imbiss. Erschöpft ließ ich mich auf eine Bank fallen und bestellte 2 Schaschlikspieße. Das hatte ich mir verdient. Danach fragte ich gestärkt, aber ziemlich müde den Tankwart, in welcher Richtung Almatevsk liegen würde. „Wo steht denn ihr Auto?“, wollte er wissen? „Ich bin zu Fuß.“ Ihm entgleisten sämtliche Gesichtszüge. „Zu Fuß?“, fragte er kopfschüttelnd? „Ja!“ Er wies mir die Richtung und ich stellte mich ein Stück entfernt an die Straße.

Mehrere Leute hielten an, wollten aber nur ins nächste Dorf und hätten mir damit nicht groß weitergeholfen. Dann ein Kleinbus. Etwas erschrocken stellte ich fest, dass es sich wohl um einen Linienbus handelte. „Egal“, dachte ich mir, „Hauptsache ich komme endlich weiter.“ Ich lümmelte mich in die hintere Ecke, versuchte noch eine Weile mich dagegen zu wehren und schlief dann doch ein.

Als ich aufwachte, fuhr der Bus gerade durch ein Städtchen und bog von der Hauptstraße ab. Alle anderen Passagiere stiegen aus. Das war dann wohl die Endstation. Was würde es kosten? Ich drückte dem Fahrer einen Hunderter in die Hand und fragte nach Almatevsk. „Meinen sie Almetevsk?“ wollte er wissen und gab mir 50 Rubel zurück. Ich zuckte die Schultern und nickte. „Da vorn ist der Bahnhof, fragen sie mal dort“. Tür zu, Bus weg.

Und nun? Wie lange hatte ich eigentlich geschlafen? Und wo zur Hölle war ich? War der Bus schon vorher irgendwo von der großen Straße abgebogen und ich war inzwischen weit weg von jedem Fernverkehr? Erst jetzt fiel mir auf, dass mir der Tankwart nicht auf Russisch, sondern auf Baschkirisch geantwortet hatte. Ich war vorhin nur seiner Handbewegung gefolgt. Ganz großes Kino. Almatevsk oder Almetevsk, was weiß ich? Ich hatte am Morgen auf der Karte bei Googlemaps gesehen, dass es allein in Baschkortostan zwei Orte namens Oktjabrskij gibt. War es mit Almatevsk ähnlich?

Auf dem Schild vor einer kleinen Bankfiliale stand „Uralsib Bank Verkhneyarkeevo“. Verkhneyarkeevo? Nie gehört. Ich schickte den Namen per SMS an eine Freundin in Nizhnekamsk, die ich an diesem Abend besuchen wollte und bat sie um Hilfe. „Alles ok! Weiter Richtung Menzelinsk oder Chelny!“, kam als Antwort. Puh…Glück gehabt. An der nächsten Ecke half mir wieder der Tankwart, die richtige Straße zu finden. Daumen raus und warten. Nach wenigen Minuten bremste ein getunter Lada mit quietschenden Reifen. „Menzelinsk?“, fragte ich. „Nein, nur ungefähr die Richtung, ich will nach Chelny.“ Volltreffer! Quietschende Reifen hin oder her, ich fuhr mit.

Wieder ein junger Mann. Er wollte gar nicht glauben, dass er gerade einen trampenden Deutschen aufgelesen hatte und kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Die Unterhaltung war sehr angeregt und lenkte mich ein wenig von seiner äußerst grenzwertigen Fahrweise ab. Nach knapp zwei Stunden erreichten wir Chelny. 500.000 Einwohner, riesige Kraftwerke, Chemieindustrie, potthässlich. Er brachte mich zum Busbahnhof. Die letzten 40 km nach Nizhnekamsk wollte ich mit dem Bus zurücklegen. Ich war todmüde und des Trampens für diesen Tag überdrüssig.

Am Fahrplan standen dutzende Destinationen, nur nicht Nizhnekamsk. Ich ging zu einem der wartenden Busse und fragte den Fahrer. „Der nächste fährt um 18:20“, antwortete er genervt. Meine Uhr zeigte 19:56. „So ein Scherzkeks“, dacht ich. „Also fährt heute keiner mehr?“ versuchte ich es noch einmal. „19:20“, brummte er zurück. War der Mann betrunken? Da fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren: Ich war bereits in der nächsten Zeitzone. 17:57 verriet die Bahnhofuhr.

Ich kaufte mir ein Ticket für 69 Rubel. Die Fahrt zu meinem endgültigen Zielort verging schnell. An einer großen traumhaft schönen Moschee stieg ich aus. Unglaublich!! Ich war am Ziel, völlig am Ende, aber stolz wie Oscar. Am Abend wurde ich mit köstlichem Essen, Kavier, moldawischem Wein und Wodka empfangen. Diesen Tag werde ich wohl so schnell nicht vergessen.

2 Kommentare to “Per Anhalter…nach Nizhnekamsk – Tatarstan”

  1. Julek says:

    Йо-хо-хоуууу…. ТОби, ты герой. Один так далеко поехал. Я даже в Стерлитамак автостопом ни разу не ездила. Поздравляю! И да, в Татарстане живут по московскому времени.

  2. nadja says:

    verrückt. russisch. tobi.