Der unfreundliche Einzelhandelsrusse – Ein menschlicher Widerspruch

Russen lächeln im Alltag wenig. Das ist ein nicht ganz unbekanntes Klischee. Auch vielen deutschen Russlandreisenden fällt auf: Ob beim Konduktor im Bus, beim Kellner oder beim Kassierer im Supermarkt, die Sache mit der Kundenfreundlichkeit haben die Russen anscheinend noch nicht ganz verinnerlicht. Häufig fühlt man sich nicht als König Kunde.

Warum das so ist, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Manche sagen, die russischen Löhne seien viel zu gering. Von der schlecht bezahlten Kassiererin zu verlangen, auch noch zu lächeln und dem Kunden noch einen schönen Tag zu wünschen, das sei ungerecht. Andere sagen, die Menschen in Russland hätten generell nicht viel zu lachen. Der harte Alltag, die allgegenwärtige Willkür, wie soll man da noch freundlich bleiben? Auch Tolstoj wird in diesem Zusammenhang gern zitiert: „Wenn schon lieben, dann von Herzen, wenn schon drohen, dann nicht zum Scherzen, (…) wenn schon strafen, dann gerecht, wenn schon feiern, dann bezecht!“ Wenn es also nichts gibt, worüber man sich wirklich freuen kann, warum sollte man dann lachen?

Nun ist es ja in unserer westlichen, sehr auf Konsum und Profit ausgerichteten Gesellschaft zur Normalität geworden, in jedem Geschäft herzlich begrüßt, nett bedient und mit wohlwollend freundlichem Lächeln wieder verabschiedet zu werden. Was wir jedoch inzwischen schon fast vergessen haben: Die Bäckersfrau muss nicht wirklich fröhlich sein, nur weil sie grinst. Der Frisör fragt uns nicht wie es uns geht, weil es ihn tatsächlich interessiert. Und die Verkäuferin im Baumarkt sagt zu ihrem Kunden nicht, er möchte sie doch bitte bald wiederbeehren, weil sie sich unsterblich in ihn verliebt hat. All diese Menschen sind nett, weil es heute zu ihrem Job gehört. Es ist Teil ihrer Arbeit und sie werden dafür bezahlt. Die Freundlichkeit, die Emotionen und Gefühlsregungen sind ein Produkt geworden, das der Kunde mit einkauft. Die eigentlich menschliche Beziehung zwischen dem Verkäufer und dem Kunden verschwindet dabei und wird überlagert vom wirtschaftlichen Kalkül, von der Hoffnung auf größeren Umsatz durch aufgesetzte, unmenschliche Freundlichkeit.

Ist das tatsächlich wünschenswert? Ist es uns inzwischen wirklich lieber, aufgesetzt nett behandelt zu werden, als einem menschlichen Menschen, mit menschlichen Emotionen gegenüberzutreten? Und ist es tatsächlich kritikwürdig, dass sich diese Form der Täuschung in Russland bisher nicht durchsetzen konnte? Oder sollten wir nicht vielmehr neidisch und anerkennend gen Osten blicken und gutheißen, dass sich die Russen ihre Menschlichkeit bisher bewahren und sich nicht von der Konsumgesellschaft dazu verleiten lassen, selbst ihre Gefühlsregungen noch zu verkaufen?

Die Antwort auf diese Frage muss sich wohl jeder selbst geben. Aber wenn ihnen das nächste Mal ein grimmiger Konduktor das Geld für die Busfahrt abknöpft, oder wenn es die Kassiererin beim Herausgeben des Wechselgeldes mal wieder nicht schafft, ihnen freudestrahlend in die Augen zu blicken und ihnen ein „Vielen Dank für Ihren Einkauf“ nachzujauchzen, dann seien sie versichert, diese Menschen meinen es ehrlich mit ihnen. Sie treten ihnen als Menschen gegenüber. Und bitte nehmen sie es nicht persönlich, denn der Kassiererin sind sie genauso egal, wie die Dame auch ihnen nicht unbedingt die Welt bedeutet.

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