Poeten in Ufa » Ufapoeten unterwegs http://ufa.platforma09.de Thu, 10 Feb 2011 09:53:04 +0000 DE-de hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.1 Von der mitteljakutischen Niederung bis zum ostsibirischen Tiefland – Für Russland zählt jeder! http://ufa.platforma09.de/?p=663 http://ufa.platforma09.de/?p=663#comments Mon, 04 Oct 2010 15:18:45 +0000 Julia http://poeten-in-ufa.de/?p=663 Das größte Land der Erde beheimatet eine ganze Menge Leute. Wie viele Menschen sich als Bürger der Russischen Förderation bezeichnen, wird sich bei der diesjährigen Allrussischen Volkszählung vom 14. bis 25. Oktober herausstellen.

pic-perepis-01Bei der Erhebung geht es darum, demografische Angaben von all jenen Personen zu gewinnen, die sich zum Zeitpunkt vom 14.10.  0 Uhr bis 25.10. auf dem gesamten Territorium Russlands befinden. Also auch Ausländer, die nur vorübergehend, zu Besuch oder befristet im Land sind. Auch im Ausland oder im All ist man von der Umfrage nicht befreit. Die drei Kosmonauten, die sich derzeit noch im All auf der “Sojus”-Trägerrakete befinden werden zu gegebener Zeit per e-Mail auf die Fragen, wie Familien- und Bildungsstand, Sprachen, Wohnungstyp und Material der Außenwände des Wohnhauses antworten.

Ende 2009 wollte Premierminister Putin die geplante Volkszählung von 2010 aufgrund der zu hohen anfallenden Kosten (circa 10 Mrd. Rubel) noch auf das Jahr 2012 verlegen, doch Präsident Medwedew bestand auf die Erhebung. So hat die Volkszählung in den entfernt gelegenen und schwer zugänglichen Gebieten bereits am 1. April des Jahres begonnen. Zu diesen Gebieten gehören 126 Kreise in 26 Subjekten der Russischen Förderation. Zwei Wochen vor Beginn der offiziellen Volkszählung wurde bereits in 40 Dörfern der Halbinsel Kamtschatka mit der Erhebung begonnen. 194 Zähler wurden angeheuert, den Einwohnern Kamtschatkas 25 Fragen zu Nationalität und Wohnbedingungen zu stellen. Wie viele Zähler dann ab nächster Woche den Rest der Föderation zählen, ist unbekannt.

Die erste Volkszählung wurde 1897 im Russischen Reich durch einen Fragebogen über demografische Angaben durchgeführt. Das Ergebnis waren 129,9 Millionen gezählte Bürger im Reich. Bei der ersten Erhebung der Sowjetunion im Jahre 1926 machten bereits 147 Millionen Menschen Angaben zum Fragebogen.  Auf dem Fragebogen standen 14 Fragen, darunter auch zu „Völkerschaft”, „Muttersprache”, „Lese- und Schreibkundigkeit”. Die Demographen erhielten somit umfassende Angaben, besonders über die soziale Zusammensetzung und über die Familien. Im heutigen Russland fand 2002 die erste Volkszählung statt und erbrachte folgendes Ergebnis: 145,2 Millionen Einwohner.

Wie viele Völker und Völkerschaften in Russland leben, auch das soll die Volkszählung beantworten. Nach den Angaben der Erhebung des Jahres 2002 leben in Russland 182 Völkerschaften. Ethnologen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Volksgruppen durch eine verstärkte nationale Selbstidentität vergrößert hat, sich eigene ethnokulturelle Volksgruppen aus größeren Völkern abgespaltet haben. Dazu gehören Kaitagazen, Kubatschinzen, Bulgaren, Bessermjanen. Aber auch Elfen, Hobbits und Rossijane wurden bei der letzten Zählung in Russland als Nationalitäten gemeldet. Die Volkszählung von 2010 wird konkretisieren, wie viele Völker und Völkerschaften in Russland leben und welche Sprachen sie sprechen.

России важен каждый! – Für Russland zählt tatsächlich jeder!1C29240B-1645-425A-AEA0-62A182E07624_mw800_mh600_s

Wer sich den Fragebogen auf Deutsch gerne einmal anschauen möchte, kann sich auf http://www.perepis-2010.ru/perepis-foreigner/ weiter belesen.

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Mit allen Wassern gewaschen – eine Ufapoetin am Baikalsee http://ufa.platforma09.de/?p=621 http://ufa.platforma09.de/?p=621#comments Fri, 30 Jul 2010 17:26:34 +0000 Julia http://poeten-in-ufa.de/?p=621 Während es sich der eine Ufapoet zum Ziel machte, einmal per Anhalter von Ufa bis zum Baikal zu trampen, bezweckte die andere Ufapoetin, in einer angenehm kühlen 64-stunden Zugfahrt im Kupé den Baikal zu erreichen. Nicht der Weg war das Ziel, sondern das Ziel ihr Weg. Sie wollte die Natur des Baikal erspüren, sich an seiner Schönheit ergötzen. Eine Woche lang am kältesten, ältesten, tiefsten und größten See der Erde entspannen. Einem See, der wohl alle Rekorde der Welt bricht und eigentlich mal ein Meer werden wollte.

Angaraschlucht

An der Südwestküste des Sees, 70 km von Irkutsk entfernt kam die Poetin an, in einem kleinen Holzhüttenhotel mit Meerblick. Listwjanka, ein mittlerweile sehr touristisches Dörfchen am Fuße des Baikals bot Herberge für 7 Tage. Das Dorf war schnell erkundet, ein Tal mit kleinen Holzhäuschen, ein weiteres Tal mit weiteren Hüttchen. An der anderen Seite der huckeligen doch asphaltieren Straße das Ufer des hiesigen Sees. Idyllisch. Wären da nicht Heerscharen von Touristen und Wochenendausflüglern aus Irkutsk, für die es kein größeres Vergnügen gibt, als am Wochenende ihre Körper beim Untertauchen im 5°C kalten Wasser zu fotografieren, am Ufer zu picknicken, Unmengen an Müll zu hinterlassen und sich als Abschluss tonnenweise vom begehrten geräucherten Baikalfisch Omul mit nach Hause zu nehmen. Ja, blickt man über diese Menschen hinweg sieht man Berge, Berge und den unendlichen See vorm noch weiter entfernten Horizont.

Der BaikalIhr war schon klar, dass ihre Fahrt zum größten See der Erde führen würde, aber in welchen Dimensionen – das wurde ihr erst vor Ort klar, als sie auf die Idee kam, einfach mal mit dem Schiff an die Ostküste fahren zu wollen. „Wie bitte? Was denkst du denn? Der See hat eine Breite von 70km, das ist viel zu weit und zu gefährlich, um da mal eben mit dem Schiff hinzufahren!!“ Mm…70km breit und 730 km lang – das macht ungefähr die Größe der Bundesrepublik Deutschland aus… einfach unglaublich. Auch das Volumen des Sees ist unvorstellbar. Alle Flüsse der Erde bräuchten umgerechnet fast ein Jahr, um den See mit Wasser zu füllen. Hinzu kommt, dass das Wasser fast überall Trinkqualität hat, was nicht zuletzt auf die Tiefe und die dünne Besiedelung zurückzuführen ist.

Ja, Sibirien ist schon ein geheimnisvolles und unbekanntes Land und für viele Europäer wohl der letzte weiße Fleck auf der Landkarte. Gerade deswegen war es eine Pflicht, ihn zu besuchen und ein Bändchen an einen schamanischen Baumstamm zu binden. So führte die Reise auch zur mysteriösen Insel Olkhon im Zentrum des Baikals, einem Fleckchen Erde mit den zweitmeisten Sonnenstunden weitweit, fehlendem Stromnetz und Kanalisation und größtenteils unasphaltieren Straßen. Die Jeeptour über Berg und Tal, Sanddünen, Wälder und weite Wiesen, stets an der Südküste der Insel entlang machte tiefen Eindruck. Eine bombastische Natur, ähnlich der der Mongolei. 1500 Einwohner, die ihre Heimat bewahren und beschützen, einzelne kleine Holzhüttenhotels für Touristen, die nicht eigenständig mit Zelt unterwegs sind. Ein Stück Erde, auf dem man noch Frieden und Unberührtheit spüren kann. Doch in den nächsten Jahren wird mit Sicherheit auch dieser Ort weiter für Touristen schmackhaft ausgebaut.

Ein anderes sehr außergewöhnliches Naturphänomen, das es nur am Baikal zu sehen gibt, ist die einzige Süßwasserrobbe der Welt. Sie ist schwarz und dick mit großen Knopfaugen und tummelt sich am liebsten im Osten des Sees. Trotz allem hatte die Poetin Glück. Anfang des Jahres wanderten zwei Röbbchen in die Bucht Listwjankas. Nun ziehen sie dort ihre Bahnen und werden ab und an gesehen. Der Baikal meinte es gut mit ihr, die Poetin sah sie fast täglich.

Alte TranssibstreckeNicht nur die Robben baden in ihm, auch für jeden Besucher ist es eine Pflicht, sich im heiligen Wasser zu waschen. Doch leider reizten die kühlen 5°C die Poetin nicht, in Weisheit zu baden. Bisher ist sie also noch nicht mit allen Wassern gewaschen. Es verlangt nach Wiederholung, der Baikal ruft Revange. Es gibt noch so vieles zu entdecken. Die alte Transsib- Strecke unter anderem ist ein beliebter Wanderpfad, der zugefrorene See eine Einladung für Huskyschlittenfahrten. Er bietet viele Möglichkeiten, der mysteriöste See der Erde.

Stille Wasser sind tief und weise. Das trifft wohl auch auf den Baikalsee zu. Nur still, das ist er nicht immer. Dann und wann plaudert er seine Geheimnisse aus…

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Per Anhalter… zum Baikalsee http://ufa.platforma09.de/?p=611 http://ufa.platforma09.de/?p=611#comments Wed, 14 Jul 2010 21:20:52 +0000 Tobi http://poeten-in-ufa.de/?p=611 Etappe 5: Von Krasnojarsk nach Irkutsk – Nebelgeister und Linksverkehr

Am Nachmittag nehme ich den Bus hinaus aus der Stadt und laufe die restlichen fünf Kilometer bis zur Autobahn. Die Sonne brennt mir ziemlich heiß auf den Hut. Der Weg ist traumhaft schön, denn er führt direkt am Ufer des Jenisseis entlang. Zuerst nimmt mich ein junges Pärchen in einem Van bis zur nächsten größeren Raststätte mit. Als ich dort ankomme, stürzt ein Mann auf mich zu und bettelt mich um 4000 Rubel an (ca. 100 €). Er spricht eigentlich kein Wort Russisch, nur diesen einen Satz, dass er 4000 Rubel möchte, den kann er sagen. Er behauptet Jordanier zu sein und ganz dringend nach Moskau reisen zu müssen. Ich packe mein etwas verrostetes Arabisch aus, aber er versteht kein Wort. Dann will er mir seinen dicken goldenen Ring für die 4000 Rubel geben, beginnt vor mir zu knien und ruft immer wieder Allah an. Für diese hervorragende Show gebe ich ihm 200 Rubel (ca. 5 €) und schicke ihn weg.

Nachdem ich mir an der Raststätte einen leckeren Schaschlikspieß gegönnt habe, geht es weiter. Ein Förster nimmt mich in seinem Niva – einem von der Firma Lada produzierten Geländewagen – mit. Endlich habe ich jemanden gefunden, den ich darüber ausfragen kann, wie groß die Gefahr ist, hier in den sibirischen Wäldern von Bären verspeist zu werden. In Ufa hatte man mich vor diesen Tieren gewarnt, aber die Fahrer, mit denen ich bis jetzt unterwegs war, haben über dieses Thema immer spöttisch gelacht, die meisten hatten noch nie einen Bären gesehen. Der Förster erzählt, dass er neuerdings an der Universität Vorlesungen über Naturschutz hält. Die Hochschulen hätten diesbezüglich eine Anweisung aus Moskau bekommen und nun hätte er einen neuen Nebenjob. Wieder ein Zeichen, dass der Umweltschutz auch in Russland an Bedeutung gewinnt? Zu den Bären äußert er sich sehr eindeutig. „Es gibt hier in den Wäldern sehr viele Bären.“, sagt er, „und sie haben auch keine Angst vor größeren Straßen.“ Diese Gefahr sollte man also keineswegs unterschätzen. Kurz vor der Stadt Kansk steige ich an einem kleinen Rasthof wieder aus.

In der Abendsonne stehen drei LKWs. Bei zweien ist des Führerhaus nach vorn geklappt und die Fahrer werkeln an den Motoren herum. Der Wirt der kleinen Kneipe ist bereits betrunken und auch die schraubenden Fahrer haben schon den einen oder anderen Wodka intus – die Stimmung ist ausgelassen fröhlich. Fahrtüchtig ist hier wohl niemand mehr, aber mir wird ein Platz zum Schlafen in einem der Wagen angeboten. Dann kommt ein weiterer Laster mit einer Ladung Altreifen auf das Gelände. Den uralten KAMAZ steuert ein sehr faltiger, aber liebenswürdig aussehender Mittsechziger. Er zeigt nicht wirklich Lust, mich mitnehmen zu wollen, aber der Wirt überredet ihn. Und so beginnt die Fahrt durch die Nacht. Noch 850 Kilometer bis Irkutsk.

Aus den Wiesen steigt Nebel auf und Stück für Stück verschwindet auch die Straße in den Schwaden. Ein bisschen ist es wie in einen Horrorfilm. Es sieht aus, als ob der Nebel den LKW packt und langsam aber unaufhaltsam in sich hineinzieht. „Jetzt fehlt nur noch, dass uns etwas Gruseliges entgegenkommt.“, denke ich bei mir. Und siehe da, plötzlich läuft eine, nur leicht bekleidete, etwa 30-jahrige Frau auf uns zu. Es ist inzwischen ziemlich kalt geworden und wir sind zig Kilometer vom nächsten Dorf entfernt. Ein Auto hatte ich auch nirgendwo erspähen können. Was zur Hölle machte also diese Frau, zu solcher Temperatur und Tageszeit, in ihrem dünnen Hemdchen, allein, mitten im Nebel? Wir rauschen vorbei. Unheimlich.

Als es richtig dunkel wird, hat sich der Nebel zum Glück wieder gelegt. Die Straßen werden immer schlechter. Anfangs sind es größere Schlaglöcher, dann sind nur noch einige Asphaltreste vorhanden. Feldwege, altes Kopfsteinpflaster, Schotterpisten – und das nennt sich also „föderale transkontinentale Straßenverbindung“. Naja, wir kommen immerhin vorwärts. Inzwischen bin ich auch heilfroh in einem alten KAMAZ zu sitzen. Wir fahren nur, je nach Streckenverhältnissen, zwischen 10 und 30 km/h, aber dabei überholen wir trotzdem neuere Kleinwagen und LKWs, die hier noch langsamer unterwegs sind.

Mitten in der Nacht steuert mein Fahrer – Sergej – plötzlich an den Rand und hält an. Der Keilriemen ist gerissen. Sergej kramt einen neuen Riemen hervor. Wir kippen das Führerhaus nach vorn. Der Motor darunter zischt und qualmt, er ist viel zu heiß geworden. Es fehlt Kühlwasser, aber darum kümmern wir uns später. Ich leuchte Sergej, er flucht vor sich hin und tauscht den Keilriemen aus. Nach 15 Minuten ist alles erledigt. Mit zwei Eimern bewaffnet, krauchen wir den Abhang neben der Straße hinunter, zu einem kleinen Bach. Das Ufer ist ziemlich aufgeweicht und so versinken wir bis zu den Knöcheln im Schlamm. Gegenseitig halten wir uns fest und angeln abwechselnd mit dem Eimer nach neuem Kühlwasser für den Motor. Ich frage mich, ob es normal ist, für Kühlung eines Motors Flusswasser zu verwenden, oder ob das nur robuste russische Fabrikate verkraften.

Nach dieser Zwangspause fahren wir weiter. Als der Morgen dämmert halten wir auf einem Rastplatz und schlafen für ein paar Stunden in der Kabine. Um 8:00 geht es wieder los. Langsam werden die Straßen auch besser. Dann geht erneut etwas kaputt, was genau habe ich aber nicht verstanden. Auch hierfür haben wir Ersatz dabei. Nach fast einstündigem Schrauben ist Sergej mit dem Ergebnis zufrieden und wir setzen die Fahrt fort. Gegen Mittag lässt er mich in einer kleineren Stadt kurz vor Irkutsk raus. Das letzte Stück fahre ich mit dem Bus.

Etwas fällt hier in Irkutsk sofort auf. Weit über die Hälfte der Autos hat das Lenkrad auf der rechten Seite. Mein Couchsurfing-Host Edward erklärt warum. Es ist deutlich teurer, Autos aus Europa hierher zu importieren, als sie in Japan einzukaufen. Viele Autohändler fahren nach Wladiwostok, kaufen dort ein japanisches, koreanisches oder chinesisches Fabrikat und bringen es selbst hierher nach Irkutsk. In Japan herrscht Linksverkehr und alle dort produzierten Wagen haben selbstverständlich das Steuer auf der rechten Seite. Ich will wissen ob es dann für die Sicherheit im Straßenverkehr nicht sinnvoll wäre, hier in Irkutsk und weiter östlich auch komplett auf Linksverkehr umzustellen. „Einfluss auf die Sicherheit hat das eigentlich nicht.“, sagt Edward, „Man kann natürlich an dem Auto, dass vor einem fährt nicht vorbeisehen, wenn man im Wagen auf der rechten Seite sitzt. Aber dann muss man beim Überholen eben auf den Beifahrer vertrauen.“

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Per Anhalter… zum Baikalsee http://ufa.platforma09.de/?p=609 http://ufa.platforma09.de/?p=609#comments Wed, 14 Jul 2010 20:07:46 +0000 Tobi http://poeten-in-ufa.de/?p=609 Etappe 4: Von Novosibirsk nach Krasnojarsk – Die erste Nacht im Freien

Beim Frühstück mit Ivan verquatscht sich der Poet bis zum frühen Nachmittag. Die geplanten 750 Kilometer bis Krasnojarsk sind damit bis zum Abend nicht mehr zu schaffen. Als ich dann an der Straße stehe, geht es aber sehr schnell. Nach kurzer Zeit nimmt mich ein Klempner in seinem Mercedes Transporter mit. Seine Stimme ist furchtbar und ich bin froh, wenn er mal ein paar Minuten schweigt. Der Mann freut sich riesig, einen Deutschen mitgenommen zu haben. Das Handbuch für seinen Mercedes ist nur in deutscher Sprache verfasst und so kann er mit den meisten Knöpfen am Armaturenbrett nichts anfangen. Er bittet mich, ihm deren Funktion zu erklären. Als wir beim Regler für die Differentialsperre des Allradantriebs angelangt sind, komme ich doch leicht ins stottern. Es bereitet mir schon einige Mühe mir auf Deutsch vorzustellen, was das eigentlich ist. Es dann noch auf Russisch zu erklären übersteigt die Fähigkeiten des Poeten. Aber mit Händen, Füßen, Gestikulieren und Wörterraten klappt es dann doch irgendwie. Als ich das Handbuch zurück ins Ablagefach schiebe bin ich völlig erschöpft und durchgeschwitzt.

Als nächstes nimmt mich wieder ein LKW mit. Zum ersten Mal fahre ich “KAMAZ” – ein LKW made in Russia. So schlimm, wie mir andere Trucker vorher erzählt hatten ist es nicht – eigentlich ist es überhaupt nicht schlimm. Die Kabine ist etwas weniger luxuriös eingerichtet und man kommt nicht ganz so schnell vorwärts, aber man kommt vorwärts und das ist in diesem Moment alles was ich brauche. Der Fahrer lässt mich an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo heraus. Nur ganz selten hält mal ein Auto, niemand will mich mitnehmen. Nach drei Stunden, es ist bereits 21:00 und ich ziemlich entmutigt, mache ich mich zu Fuß auf die Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht. Der Wald links und rechts der Straße hat ein sehr dichtes Unterholz. Hier ist kein Durchkommen. Unter der Straße führt ein dickes Rohr hindurch. „Das wird es dann wohl sein.“, denke ich, „Na wenigstens ist es dort trocken.“

Dann hält doch noch ein Auto. Ein junger Mann, Ende 20, nimmt mich mit bis ins Zentrum der Stadt Kemerowo. Glück gehabt, aber ich habe trotzdem keinen Platz zum Schlafen. Also beschließe ich die Nacht durchzufahren, so lange es geht. Durch Kemerowo gehe ich zu Fuß. Als ich an die Brücke über den Fluss „Tom“ (nach dem auch die Stadt Tomsk benannt ist) komme, steht dort ein Schild mit der Aufschrift „Gefahrenzone“. Ich stocke kurz. Um zur Autobahn zu kommen muss ich wohl oder übel diese Brücke überqueren. Der Fluss ist hier sehr breit und ich kann nicht die gesamte Brücke einsehen, aber etwas Gefährliches kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Also laufe ich weiter. Etwa in der Mitte der Brücke taucht eine Absperrung auf. Dahinter ist der Bürgersteig mit großen Planen abgedeckt. Hier ist erst vor Kurzem der Gehweg neu betoniert worden. Soll ich doch lieber zurück laufen? Aber wenn der Beton schon trocken ist…? Ich klettere mit einem Bein über die Absperrung und probiere vorsichtig, ob der Untergrund fest ist. Kein Problem. Ich sinke nicht ein, alles scheint ausgehärtet. Ich klettere ganz über die Absperrung und laufe vorsichtig weiter. Nach 300 Metern fängt der Boden unter mir an, sich doch etwas komisch anzufühlen. Noch kann ich nicht sehen warum, die Plane verdeckt die Sicht. Dann beginne ich einzusinken. Mist! Egal, jetzt laufe ich weiter. Ich sinke immer tiefer ein und hinterlasse eine 100 Meter lange Fußspur im frischen Beton.

Den Stadtrand erreicht der Poet erst, als die Sonne schon untergeht. Wieder nimmt mich ein KAMAZ mit, 150 Kilometer bis Mariinsk. Bei der Ankunft ist es bereits 1:00 und stockdunkel. Zu so später Stunde wird niemand mehr anhalten. Ich stapfe durch die Nacht. In der Ferne ist sind die Lautsprecheransagen des Bahnhofs zu hören. Mariinsk ist nur eine kleine Stadt, aber für die russische Eisenbahn von großer Bedeutung. Hier wechselt das Stromsystem in der Oberleitung von Gleich- auf Wechselstrom. Bei jedem Zug, der auf der Transsibirischen Eisenbahn fährt, muss in Mariinsk die Lok ausgetauscht werden. Ich suche nach einem Platz, an dem ich warten kann, bis die Sonne wieder aufgeht. An einer kleinen beleuchteten Bushaltestelle setze ich mich auf die Bank. Regelmäßig fährt eine Polizeistreife vorüber. Dann rauscht plötzlich ein aufgemotzter Lada vorbei, wendet und hält vor der Haltestelle. Aus dem Auto heraus mustert mich die Kleinstadtjugend. Ich bekomme kurz ein mulmiges Gefühl, aber es passiert nichts. Nach wenigen Sekunden fährt der Wagen weiter.

Gegen 4:00 wird es wieder langsam hell. Ich mache mich zu Fuß auf den Weg, zurück zur Fernstraße. Die Dörfer, durch die ich laufe, sind noch totenstill – zumindest bis der Poet sie betritt. Hinter beinahe jedem Zaun beginnt ein Hund zu bellen, das ganze Dorf kläfft mir nach. Eine halbe Stunde später nimmt mich ein LKW mit. Er hat 29 Tonnen Bananen geladen. Da auf russischen Straßen nur maximal 20 Tonnen erlaubt sind, ist er ausschließlich nachts unterwegs. Um die Polizeikontrollen zu umgehen fährt er oft große Umwege. „Fast 90 Prozent der russischen LKWs fahren so.“, erzählt der Mann am Steuer. Ich nicke ein, hole den fehlenden Schlaf der letzten Nacht nach.

Um 11:00 werde ich am Stadtrand von Krasnojarsk raus gelassen. Immer noch todmüde frage ich eine sehr ärmlich aussehende Kwas-Verkäuferin nach dem Bus ins Zentrum. Sie hilft mir sehr freundlich, verkauft mir einen halben Liter Kwas. Als ich trinken will, sehe ich, dass der Plastikbecher Beulen und Druckstellen – er ist schon einmal benutzt worden. Die Frau sagt: „Trinken sie doch, sie sind bestimmt erschöpft von der langen Nacht.“ Der Poet trinkt und ekelt sich. Hinter der nächsten Ecke feuert er den Becher samt Inhalt in einen Mülleimer. Widerlich!

Krasnojarsk – die Stadt, die auch auf dem 10-Rubel-Schein abgebildet ist – finde ich nicht besonders schön. Ob das ein Grund ist, warum diese Geldscheine gerade russlandweit durch 10-Rubel-Münzen ersetzt werden? Wohl eher nicht. Der Bahnhof ist dann aber doch ganz hübsch. Ich setzte mich auf den Vorplatz und ruhe mich aus, schreibe Postkarten. Aus Krasnojarsk hat mir leider kein Couchsurfing-Host zugesagt. Auch hier habe ich keinen Ort zum Übernachten. Am Nachmittag wird es also gleich weitergehen – die letzten 1050 Kilometer bis nach Irkutsk.

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Per Anhalter… zum Baikalsee http://ufa.platforma09.de/?p=605 http://ufa.platforma09.de/?p=605#comments Sun, 11 Jul 2010 21:28:52 +0000 Tobi http://poeten-in-ufa.de/?p=605 Etappe 3: Von Omsk nach Novosibirsk – Cowboys, Walderdbeeren und Mückenplage

Gestern wollte der Poet die 660 Kilometer von Omsk, der grünen Stadt an der Om, nach Novosibirsk, der inoffiziellen Hauptstadt Sibiriens überwinden. Die ersten 100 Kilometer lief alles wie am Schnürchen. Ich hatte mich gerade an die Autobahn gestellt, da hielt auch schon Kostja in seinem nagelneuen Skoda und nahm mich mit. Die etwa 100 Kilometer schafften wir in 40 Minuten. Dort ließ Kostja mich an einer großen Raststätte raus und fuhr weiter zu seiner Familie aufs Dorf.

An der Tankstelle standen ziemlich viele LKWs, die ich alle abklapperte. Keiner der Fahrer wollte mich mitnehmen. Dann fuhr ein Truck mit ukrainischem Kennzeichen an die Zapfsäule. Der Fahrer meinte, er würde mich mitnehmen, könne aber nur noch etwa drei bis vier Stunden weiterfahren und müsse dann pausieren, weil er nach Tachograph fahre, also bestimmte Lenk- und Ruhezeiten einhalten müsse. Vier Stunden Fahrt, das entspricht etwa 300 Kilometern, er würde mich also meinem Ziel ein großes Stück näherbringen. Ich stieg ein.

An den Namen des Fahrers kann ich mich leider nicht erinnern. Er sah jedoch beinahe aus, wie die Torwartlegende Sepp Maier, nur braugebrannt und ungepflegt. Von dem was Sepp sagte verstand ich fast nichts. Ob es daran lag, dass er ukrainisch sprach oder ob ich einfach zu müde war, um ihm zu folgen, weiß ich nicht. Zum Glück erzählte er nicht viel und so schwiegen wir uns die meiste Zeit an.

Der Regen der letzten Tage hatte die trockenen Steppen, an denen ich vorbeifahre, in saftiges Grün verwandelt. Nun, auf dem Weg nach Novosibirsk grasen ab und zu Rinderherden nahe der Straße, begleitet von berittenen Hirten. Es gibt hier in Sibirien tatsächlich echte Cowboys. Ob sie wohl Marlboro rauchen? Dann gibt es auf einmal unzählige Menschen, die gebückt irgendwo in den Wiesen hocken. Was sie dort tun wurde mir erst etwas später klar. Sie sammeln eine Art Walderdbeeren, um sie dann am Straßenrand an vorbeikommende Autofahrer zu verkaufen.

Als wir den Novosibirskaja Oblast erreichen ändert sich die Landschaft. Es gibt nun deutlich mehr Wälder und immer wieder Seen, kleine Tümpel und Sümpfe. Und noch etwas ist neu. Am Straßenrand gibt es in regelmäßigen Abständen Mülleimer und große Hinweisschilder mit der Aufschrift „Schützt den Wald“. Sollte die regionale Verwaltung hier etwa zu der Erkenntnis gelangt sein, dass man Natur nicht nur verschmutzen sondern auch schützen kann? Mülleimer und Hinweisschilder sind immerhin ein Anfang.

Dörfer werden nun immer seltener. Die Region scheint mit Fisch gesegnet zu sein. Ab und zu fahren wir an Autos vorbei, an denen man geräucherten Fisch kaufen kann. Auch ein paar freilaufende Pferdeherden sind zu sehen. Etwa 500 Meter neben der Autobahn führt seit ein paar Hundert Kilometern eine Reihe aus kleinen gelben Warntafeln entlang. Von hier fließt das berühmte sibirische Erdgas bis nach Westeuropa und sorgt dort für warme Stuben in kalten Wintern.

Nach etwa vier Stunden Fahrt hält Sepp kurz an. Er zieht irgendwelche Kabel unter dem Armaturenbrett hervor und fummelt daran herum. Zum Schluss schiebt er eine aufgebogene Büroklammer in eines der Kabel und schiebt mit einem zufriedenen Lächeln alles wieder hinter die Verkleidung. So fahren wir weiter, vielleicht eine oder zwei Stunden. Dann wiederholt er die Prozedur – nur, dass er die Büroklammer diesmal wieder entfernt. Kurz darauf fahren wir an einer Polizeikontrolle vorbei. Er scheint etwas aufgeregt zu sein, aber das legt sich schnell, als wir die Kontrolle passiert haben. Später erklärt er mir, was es mit dieser Büroklammer auf sich hat. Er überbrückt damit irgendeinen Kontakt und trickst den Tachographen aus. Dieser zeichnet dann die Fahrt nicht mehr auf, sondern verbucht die Zeit als Ruhephase. Kann man die Technik wirklich so leicht überlisten?

Und noch etwas ist komisch an seiner Fahrweise. Er beschleunigt seinen LKW immer auf ca. 90 km/h, nimmt dann den Gang heraus, lässt den Truck auf 50 bis 60 km/h ausrollen und beschleunigt dann wieder. Der Mann wird mir ein wenig unheimlich. Inzwischen ist es kurz nach 22:00. Die von Sepp zu Beginn angekündigten drei bis vier Stunden, die er noch fahren darf, sind lange überschritten. 60 Kilometer vor Novosibirsk fährt er auf einen Rasthof und macht sich bettfertig. Ich bin stinksauer. Warum fährt er nicht einfach noch eine Stunde weiter und bringt sich selbst und mich ans Ziel? „Das geht nicht, ich muss die Ruhezeiten einhalten.“, sagt Sepp. Ich stapfe zurück zur Straße um zu versuchen, jemanden zu erhaschen, der mich noch an diesem Tag bis Novosibirsk bringt.

Aussichtslos! Es ist schon fast dunkel und niemand hält mehr an. Und noch dazu werde ich von den Mücken fast aufgefressen. Die vielen Tümpel und Sümpfe in der Umgebung bieten perfekte Bedingungen für die Eiablage und die armen Tramper, die nach Osten wollen, sind eine noch bessere Nahrungsquelle. Innerhalb von 10 Minuten habe ich gefühlte 200 Mücken erschlagen und bin von ebensovielen gestochen worden. Ich flüchte zurück zu Sepp und frage, ob ich bei ihm im LKW schlafen kann. Wir trinken noch mit ein paar anderen Truckern ein Feierabendbier und dann krabbeln wir auf die Liegen im hinteren Teil der Fahrerkabine. Eigentlich ist es gar nicht so unbequem. Man hat deutlich mehr Platz, als beispielsweise in einem Schlafwagen. Wenn Sepp doch nur nicht so erbarmungslos schnarchen würde. Vor dem Einschlafen frage ich noch, wann er am nächsten Morgen weiterfahren will. „Aach!“, winkt Sepp ab, „Spät! Erst gegen 10:00 oder 11:00, ich muss jetzt 12 Stunden Pause machen.“

Um 8:00 morgens sitzt Sepp wieder am Steuer und fährt weiter. Nach 20 Minuten hält er an der nächsten Tankstelle. „So“, sagt er, „weiter kann ich nicht fahren, jetzt muss ich erstmal Pause machen.“ Ich habe genug von Sepp, verabschiede mich und steige aus. An der Straße wartet noch ein Tramper. Er ist aus dem Kaukasus und will zu seiner Freundin nach Krasnojarsk. Ich spreche den Fahrer eines PKWs an, der gerade tankt. „Wie viel zahlst du denn?“, will der Mann wissen. Ich überlege kurz ob es mir die letzten Kilometer noch wert sind, dafür Geld zu zahlen und sage dann: „200!“ (200 Rubel = ca. 5 €)

Für die 200 Rubel werde ich sogar bis zum meinem Couchsurfing-Host vor die Haustür gefahren. Der, der mich da mitnimmt ist Polizist. Er und sein Kollege sind gerade auf dem Weg zur Arbeit und haben neben mir noch einen weiteren zahlenden Fahrgast auf der Rückbank, um sich etwas dazuzuverdienen. Den Rest des Tages verbringe ich mit Ivan und seiner Freundin Vera. Am Abend machen wir gemeinsam Pelmeni – die Echten, die Sibirischen.

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Per Anhalter… zum Baikalsee http://ufa.platforma09.de/?p=599 http://ufa.platforma09.de/?p=599#comments Fri, 09 Jul 2010 21:37:24 +0000 Tobi http://poeten-in-ufa.de/?p=599 Etappe 2: Von Tscheljabinsk nach Omsk – Eine unruhige Nacht

Der Tag beginnt erneut mit einem Fehlstart. Der Bus zum Startpunkt, den mir Misha empfohlen hatte, fährt nur alle 4 Stunden. Ich irre eine ganze Weile in Gazelkas durch kleinere Dörfer am Stadtrand von Tscheljabinsk. Als ich endlich an der Autobahn stehe, ist es bereits Mittag. Die Straße ist an dieser Stelle sehr wenig befahren. Die meisten Autos biegen einige hundert Meter vorher ins nächste Dorf ab. Niemand hält an um mich mitzunehmen. Etwa einen Kilometer weiter hält ein LKW am Straßenrand – der Fahrer verschwindet kurz im Wald. Ich nehme die Beine in die Hand. Als ich den Wagen erreiche steigt der Fahrer gerade wieder auf seinen Bock. Meine Bitte, mich mitzunehmen, lehnt er grimmig ab und fährt los. Umsonst gerannt.

Von dieser Stelle aus ist in der Ferne eine Tankstelle zu sehen und regt Hoffnung in mir. Kommt der Poet vielleicht heute doch noch ans Ziel? Die Tankstelle ist fast menschenleer. Nur zwei LKWs stehen in der Mittagshitze. Im ersten Führerhaus ist niemand zu sehen, aber das zweite verspricht mehr Glück. Bei laufendem Motor sitzt der Fahrer in seiner Kabine und telefoniert, die Tür ist offen. Der Mann ist etwa Ende 40 und braungebrannt. Sein Haar hat bereits deutlich an Fülle verloren, in seinem Mund nur noch wenige Zahnstummel. Als er sein Gespräch beendet hat frage ich, wohin er fährt. Ich muss beinahe brüllen um den laufenden Motor zu übertönen. „Ich will nach Hause.“, sagt er und deutet auf sein Nummernschild. Auf jedem russischen Kennzeichen ist in der oberen rechten Ecke ein zwei- oder dreistellige Nummernkombination zu finden, die Auskunft darüber gibt, aus welchem Gebiet das Fahrzeug stammt. Es gibt allerdings 83 solcher Gebietskennzahlen und zahlreiche weitere Zusatznummern – kurz gesagt, der Poet hatte keine Ahnung, was die Nummer auf dem Kennzeichen des LKWs zu bedeuten hatte. Der Fahrer erkennt meine Ahnungslosigkeit und hilft aus. „Ich fahre nach Kemerowo.“, erklärt er – eine Stadt etwas östlich von Novosibirsk. „Wahnsinn!“, denke ich, das ist genau meine Richtung. „Nehmen sie mich bis nach Omsk mit?“ schreie ich gegen den Motor. Er reagiert abweisend, sagt aber nicht nein. Der Poet wittert seine Chance. Ich verwickle ihn in ein Gespräch. Ein bisschen Smalltalk und dann versuche ich meine „deutschen“ Mitbringsel ins Spiel zu bringen, die ich im Rucksack habe. Den Likör lehnt er ab: „Ich trinke nicht.“ Als ich ihm meinen Kaffee zeige, wird er doch langsam schwach. Nach 20 Minuten habe ich ihn bequatscht – tatsächlich, er nimmt mich mit, fast 1000 Kilometer bis nach Omsk.

Es geht los, meine erste Fahrt in einem LKW – Fabrikat Volvo. Der Fahrer – er heißt Slava – erzählt viel. Ich kann mich ausruhen und muss nur zuhören. Zum Glück haben mich meine ufaer Freunde umfassend in den russischen Schimpfwortschatz eingewiesen. Slava bedient sich dieses Vokabulars sehr großzügig, kein einiger Satz geht ihm ohne Fluch über die Lippen. Hinter uns im Sattelauflieger befinden sich knapp 20 Tonnen Abflussrohre. 20 Tonnen – das ist die Last, die auf russischen Straßen maximal zugelassen ist. An der nächsten Polizeistation am Straßenrand müssen wir über eine LKW-Wage fahren. Was es nicht alles gibt! Die Polizisten winken uns durch – alles in Ordnung.

Über Funk gibt es ab und zu Durchsagen von anderen Fahrern über Polizeikontrollen entlang der Autobahn. Dann ertönt plötzlich eine Frauenstimme. Ich verstehe nicht was sie sagt und frage Slava. Er lacht laut: „Das ist Reklame für einen Puff!“ Die Frauenstimme, die also aus einer etwas speziellen Raststätte irgendwo in der Nähe gekommen war, hatte die Vorzüge des Etablissements aufgezählt und potentiellen Kunden auch noch ein kostenloses Begrüßungsbier versprochen.

Slava kommt mit seinem Truck gerade aus Moskau. Von Kemerowo nach Moskau und zurück, diese Strecke fährt er immer. Früher ist er eine andere Route Richtung Osten bis nach Wladiwostok gefahren. „Zum Glück ist das vorbei“ sagt er. Die Straßen werden dort im Osten immer schlechter und man braucht für eine Fahrt deutlich länger als bis nach Moskau. Auf einer dieser Fahrten hat er auch seine Zähne verloren. „Meine Firma hatte gerade neue Sattelschlepper gekauft und von russischen KAMAZ auf amerikanische Freighliner-Trucks umgestellt.“, erzählt er. Bei einer seiner ersten Fahrten – es war mitten im sibirischen Winter – sei plötzlich die gesamte Elektronik ausgefallen, inklusive der Kabinenheizung. Er hatte von der Firma keine Einweisung bekommen, wie man solch einen Defekt repariert und so ist er in seinem LKW fast erfroren. Irgendwann hat ihm dann doch noch ein anderes Auto geholfen, sonst hätte er weit mehr verloren, als nur ein paar Zähne.

Die Landschaft durch die wir fahren ist sehr flach. Ab und zu gibt es ein paar Tümpel oder kleine fast ausgetrocknete Bäche, Bäume sind nur selten zu sehen. Eine trockene, gelblich-braune Graslandschaft erstreckt sich auf beiden Seiten der Straße bis zum Horizont. Leere Wasserflaschen wirft Slava einfach aus dem Fenster. Meinen bösen Blick kommentiert er mit einem Grinsen. „Das machen hier alle so, das schafft Arbeitsplätze“, rechtfertigt er sich. Wenn hier tatsächlich alle Leute ihren Dreck einfach aus dem Autofenster werfen, dann ist der Straßenrand erstaunlich sauber, denke ich bei mir. Er erzählt von Arbeitslosen die für ein wenig Geld in Bussen hierher gebracht werden und dann den Müll einsammeln dürfen.

Als es dunkel wird, beginnt es zu regnen. Die Qualität der Autobahn verschlechtert sich deutlich, die Straßen werden enger. Ich nicke ständig ein und werde von der holprigen Fahrt durch unzählige Schlaglöcher immer wieder unsanft aus dem Schlaf gerissen. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun. Die Straße ist durch Regen und Dunkelheit kaum mehr zu erkennen. Und müsste mein Fahrer nicht auch irgendwann mal eine Pause machen? Was ist wenn er am Steuer einschläft? Ich schiele ständig zu ihm hinüber. Nein! Er ist hellwach, fährt sehr sehr sicher und vorsichtig. Ich beruhige mich etwas.“ Schließlich ist das hier sein Job“, mache ich mir selbst Mut, „er wird uns schon heil durch die Nacht bringen.“ Kurz nach Mitternacht stockt mir der Atem. Wir fahren an einem Unfall vorbei. Ein anderer LKW liegt kopfüber im Straßengraben. Über Funk erfahren wir, was passiert ist. Ein blauer Kleinwagen ohne Kennzeichen und Beleuchtung ist vor dem LKW plötzlich auf die Autobahn gefahren. Der LKW-Fahrer hatte versucht auszuweichen und dabei aber die Kontrolle verloren, der LKW hatte sich mehrfach überschlagen. Mit einem Mal ist meine Angst wieder da. Ich bin kurz davor einfach auszusteigen – trotz Regen, trotz Dunkelheit – um dann erst am nächsten Tag im Hellen wieder irgendwie weiterzukommen. Nur Slavas erstaunlich sicherer Fahrstil hält mich davon ab.

In der nächsten Kleinstadt halten wir kurz an einer Tankstelle um Wasser zu kaufen. Als wir wieder einsteigen hält Slava kurz inne. An der Tankstelle steht ein Auto, blau, ohne Kennzeichen, kein Licht. Ist das der Unfallverursacher? Slava versucht noch einmal Informationen über Funk zu bekommen – niemand antwortet. Wir fahren weiter. Ich kann mich vor Müdigkeit nicht mehr auf meinem Stuhl halten und krieche nach hinten, auf eine der Liegen. Als ich aufwache sind wir schon in Omsk. Es ist 5:00 morgens. Slava kocht auf einem kleinen Gasherd in der Kabine Tee, dazu gibt es Kekse und eine Art Salzstangen, nur ohne Salz. Wir quatschen noch eine Weile sehr herzlich. Dann ist es Zeit sich zu verabschieden. Ich schenke ihm den versprochenen Kaffee. Slava druckst etwas herum und fragt dann doch noch nach dem Likör. Von wegen, er trinkt nicht. Für seine Windschutzscheibe bekommt er noch ein kleines Kuscheltier in den deutschen Nationalfarben.

Ich nehme den allerersten Trolleybus an diesem Morgen. Um 6:30 stehe ich bei Roman (meinem Couchsurfing-Host) vor der Tür. Er will gerade zur Arbeit. Kurz zeigt er mir noch die Luftmatratze und das Bettzeug, dann verschwindet er. Ich lasse mich auf die Matratze fallen und schlafe sofort ein.

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Per Anhalter… zum Baikalsee http://ufa.platforma09.de/?p=591 http://ufa.platforma09.de/?p=591#comments Wed, 07 Jul 2010 18:06:24 +0000 Tobi http://poeten-in-ufa.de/?p=591 Etappe 1: Von Ufa nach Tscheljabinsk – „Wie dämlich kann man eigentlich sein? Du wirst hier bis morgen früh stehen!“

Um 7:00 klingelt der Wecker. Rucksack und Frühstück sind schon vorbereitet. Kurz nach neun Uhr steht der Poet an der Autobahn M5 und streckt seinen Daumen Richtung Tscheljabinsk in die Höhe. Das Autobahnkreuz ist hier in alle Richtungen dreispurig ausgebaut und die Autos rasen in hohem Tempo vorbei. Schnell ist klar, hier wird niemand anhalten um mich mitzunehmen. Trotzdem versuche ich es noch an einigen anderen Stellen. Vor und hinter der Auffahrt, in der nächsten Kurve – nichts! Nach drei Stunden gebe ich auf. Meine Straßenkarte zeigt noch eine zweite Möglichkeit, auf diese Autobahn zu kommen. Ganz im Norden Ufas gibt es eine Zubringerstraße, vielleicht kommt man von dort besser los.

Mit dem Bus fährt der Poet bis zum Motorenwerk UMPO. Näher kommt man mit dem ÖPNV nicht an die M5. Also: Neuer Versuch – Daumen raus. Und siehe da, es funktioniert. Nach zehn Minuten sammelt mich Albert auf seinem Nachhauseweg ein. Er ist Tatare, Taxifahrer von Beruf und wohnt in einem kleinen Dorf, etwas außerhalb von Ufa, aber direkt neben der Autobahn. Am Eingang des Dorfes steht eine Polizeikontrolle, mehrere Milizionäre tragen Maschinenpistolen um den Hals. Die schwere Bewaffnung der Polizisten fällt mir zwar auf, aber ich frage Albert zunächst nicht danach. Er will wissen, ob ich irgendwelche deutschen Souvenirs bei mir habe. „Selbstverständlich“, denke ich, „mein Rucksack ist voll davon“. Aber ich beschließe ihn noch ein bisschen auf die Folter zu spannen. „Ein paar Kühlschrankmagneten mit Berlinfoto, eine Tasse in den Farben der deutschen Flagge…“ lasse ich Albert wissen. Er ist enttäuscht. „Was hältst du von deutschem Likör?“ Seine Augen leuchten. „Kann ich dir eine Flasche abkaufen?“ fragt er. Ich schenke sie ihm: 0,2 l Wilthener Gebirgskräuter. Am Ende des Dorfes ist wieder eine Polizeikontrolle und erneut sind die Milizionäre mit MPs bewaffnet. Nun frage ich doch nach. „Naja“, meint Albert, „das ist ein besonderes Dorf. Hier sind solche staatlichen…naja…staatliche…“ Er weiß nicht wie er es erklären soll. Oder verstehe ich es nur nicht? Wir sind schon fast an der Autobahn. Ich frage ihn nach einem Interview für Baschkirienheute. Der Sache mit dem abgesicherten Dorf muss ich auf den Grund gehen. Albert zögert erst, stimmt dann aber zu und gibt mir seine Telefonnummer.

Als nächstes nehmen mich zwei baschkirische Brüder mit. Lion und Fail sind beide schon geschieden und zeigen mir stolz Fotos von ihren Söhnen. Lion ist Soldat und in Tschetschenien stationiert. Auf meine Frage nach dem Tschetschenienkrieg sagt er: „Es geht um Öl, um nichts anderes als um Öl.“ Diese Antwort erinnert mich an ein Erlebnis am halleschen Rennbahnkreuz. Im letzten Sommer traf der Poet dort nachts einen gebürtigen Tschetschenen an der Straßenbahnhaltestelle. Auch er hatte mir erzählt, das der Grund für die Kriege in der Kaukasusrepublik allein der Kampf um das Erdöl sei. „Schon wenn man dort einfach nur in seinem Vorgarten buddelt, sprudelt einem das Öl entgegen.“ hatte er gesagt.

Auf meinem Weg nach Tscheljabinsk bin ich inzwischen mitten im Uralgebirge. Traumhaft schöne Birkenwälder säumen die Straße. In den malerischen Tälern liegen süße kleine Dörfer. Ab und zu auch ein Städtchen. Hier reihen sich die Holzhäuser dicht gedrängt aneinander und in der Mitte ragt ein dicker Plattenbauklotz in den Himmel. Man sollte meinen, diese Geschmacklosigkeit aus der Sowjetzeit würde die Postkartenidylle völlig zerstören. Stattdessen finde ich sogar gefallen an diesem Anblick. Es hat etwas interessantes, futuristisches.

Kurz hinter der Stadt Sim setzen mich Fail und Lion an einer Raststätte ab. Es ist kurz nach fünf Uhr am Nachmittag. Etwa ein Drittel der 400 km bis Tscheljabinsk sind geschafft. Ein Restaurant, eine Tankstelle, mehrere kleine Holzbuden, an denen man fast alles kaufen kann, vom Autoersatzteil, über die Anglerausrüstung bis zum Gartenpool. Ein paar Trucker sitzen in der Sonne und genießen ihre Pause bei einer Runde “Nardy” (russische Version von Backgammon). Die vorbeirasenden LKWs wirbeln dicke Staubwolken auf. Mein ausgestreckter Daumen scheint hier wieder niemanden zu interessieren, es hält kein einziges Auto. Nach zwei Stunden beginne ich damit, auch die pausierenden Trucker zu fragen, ob sie mich mitnehmen. Wieder nichts – keiner der LKWs fährt nach Tscheljabinsk. Um 21:00 habe ich mich langsam damit abgefunden, dass ich diese Nacht wohl im Wald, oder im nächsten Dorf schlafen muss. „Was für ein toller Start!“, denke ich bei mir. „Schon an der ersten Etappe gescheitert“, würde der Blogeintrag heißen. Einer der Budenverkäufer winkt mich zu sich. „Wie dämlich kann man eigentlich sein“, macht er mich an, „du wirst hier bis morgen früh stehen!“ An der Tankstelle hält ein Lada. Der Fahrer sieht völlig entnervet aus. Soll ich ihn fragen oder lasse ich ihn lieber in Ruhe? Ich frage. Volltreffer! Der Mann ist furchtbar schlecht gelaunt, aber er fährt direkt nach Tscheljabinsk und nimmt mich mit.

Im Auto sagt er kein Wort. Der Poet schläft ein. Als ich aufwache scheint sich die Laune des Fahrers gebessert zu haben. Er ist Redakteur bei einer tscheljabisnkaer Anzeigenzeitung. Ab und zu stehen dunkle Rauchwolken über den Bäumen. Waldbrände – es hat seit Wochen nicht geregnet. Etwas später essen wir an einer Raststätte Abendbrot. Ich muss auf die Toilette, aber ich traue mich nicht. Was ist, wenn der Mann jetzt einfach ins Auto steigt und mit meinem Rucksack abhaut? Es wird nun schnell dunkel. Die Trasse hat gute Landstraßenqualität, nur manchmal gibt es Abschnitte mit riesigen Schlaglöchern.

Nachts um 1:00 sind wir in Tscheljabinsk. Ich werde noch bis vor die Tür meines Couchsurfing-Hosts gefahren. Ich übernachte bei Misha. Es gibt noch eine Tasse Begrüßungstee und danach falle ich todmüde ins Bett. „Dieser Mann war so nett zu mir“, denke ich vor dem Einschlafen, „er nimmt mich 300 km in seinem Auto mit, fährt mich mitten in der Nacht noch zu meiner Unterkunft und ich kenne noch nicht einmal seinen Namen.

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Urlaubspause http://ufa.platforma09.de/?p=585 http://ufa.platforma09.de/?p=585#comments Wed, 07 Jul 2010 06:54:27 +0000 Julia http://poeten-in-ufa.de/?p=585 Die beiden Ufapoeten verschlägt es im nächsten Monat weit weg. Der 3000 km entfernte Baikalsee ist das Urlaubsziel und liegt damit noch einmal genauso weit entfernt, wie Halle von Ufa. Per Anhalter quer durch Sibirien lautet die Devise. Und wenn uns unterwegs kein Bär mit in sein “Gefährt” nimmt, dann folgen im August spannende Geschichten aus dem weiten Russland und vom tiefsten und mysteriösten See der Erde.

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Kein Interview mit Natalja: „Ich muss hier noch ein paar Jahre arbeiten.“ http://ufa.platforma09.de/?p=581 http://ufa.platforma09.de/?p=581#comments Wed, 30 Jun 2010 13:53:37 +0000 Tobi http://poeten-in-ufa.de/?p=581 Natalja, die ihren richtigen Namen nicht im Internet lesen möchte, ist Zugbegleiterin und arbeitet schon ihr halbes Leben bei der russischen Eisenbahn. Ihre zwei inzwischen erwachsenen Kinder hat sie allein großgezogen. Zehn Tage Zugfahren, 5 Tage frei und dafür 10.000 Rubel (ca. 260 €) pro Monat – das ist ihr Leben.

„Na, können sie nicht schlafen?“, will sie wissen. Es ist 2 Uhr morgens, irgendwo nördlich von Moskau. Ihre Kollegin kann sich gerade für ein paar Stunden ausruhen. Je zwei Zugbegleiter sind in russischen Fernzügen für die Betreuung eines Wagons zuständig. „Wollen sie an einer Fahrgastbefragung teilnehmen?“, bietet mir Natalja an. Sie stellt ein paar Fragen. „Wie zufrieden sind sie mit dem Zug? Machen wir unsere Arbeit gut?“ Was soll ich sagen? Die Lüftung des Wagons ist kaputt. Tagsüber schmoren die Fahrgäste bei unerträglichen 36 °C. Jetzt in der Nacht sind es immer noch fast 30 °C. Beim Samowar funktioniert die Wasserzufuhr nicht richtig – ständig ist das heiße Wasser alle. „Ja!“, stimmt Natalja zu, „Früher war das alles anders. Da hatten wir immer jemanden, der das repariert hat, aber heute! Heute ist ständig irgendetwas kaputt!“

Und so beginnt sie zu klagen. Die Arbeit ist so furchtbar anstrengend. Fünf Tage am Stück arbeitet sie, 24 Stunden am Tag ist sie im Dienst. Und dafür einen Hungerlohn, von dem sie nicht leben kann. Zum Glück bekommt sie von ihren Eltern Obst und Gemüse aus dem Garten.

Einige ihrer jungen Kolleginnen hätten es richtig gemacht. Sie hätten einen Ausländer geheiratet und wären in die USA oder nach Deutschland gegangen. Aber sie selbst? Nein! Sie ist doch hier zu Hause, was soll sie schon im Westen. Ich frage sie, ob sie nicht bereit wäre, uns ein Interview zu geben und Baschkirienheute über ihr Leben als Zugbegleiterin zu erzählen. Natalja lehnt ab. „Nein!“, sagt sie, „Ich hätte ganz gewiss nichts positives zu berichten und das fänden meine Vorgesetzten gar nicht lustig.“ „Und wenn wir Ihnen einen anderen Namen geben?“, versuche ich es noch einmal. Sie will nicht. „Ich arbeite hier schon so lange, die Leute kennen mich und meine Meinung. Ich muss hier noch ein paar Jahre arbeiten, bevor ich in Rente gehe.“

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Poet im Urlaub – Kulturschock rückwärts http://ufa.platforma09.de/?p=514 http://ufa.platforma09.de/?p=514#comments Thu, 27 May 2010 16:07:01 +0000 Tobi http://poeten-in-ufa.de/?p=514 Einer der Poeten nimmt gerade ein paar Tage Urlaub und ist zurück in Halle, um sich ein wenig vom anstrengenden Freiwilligenleben zu erholen und seine Liebe zu pflegen. Dabei wundert er sich über so manche Dinge, die den Alltagshallenser wohl eher kalt lassen.

Feiertage sind tatsächlich Feiertage

Erster Tag zurück in der Heimat. Der Poet macht sich frohen Mutes auf den Weg in die Innenstadt um ein paar Dinge zu besorgen. In vollem Bewusstsein, dass an diesem Tag Pfingstmontag ist, kommt ihm der hallesche Marktplatz zwar ein wenig verlassen vor, was ihn aber nur in seiner Meinung bestärkt, dass Halle eben doch ein ziemlich kleines Städtchen ist. Erst als er verdutzt vor der mit einem heruntergelassenen Stahlgitter verschlossenen Buchhandlung steht, geht ihm ein Licht auf. Halle ist zwar klein, aber so verschlafen dann doch nicht. Pfingstmontag ist ein Feiertag und an Feiertagen sind Geschäfte geschlossen und Menschen liegen auf der Peißnitz in der Sonne. Das ist banal, aber in Ufa vergisst man das sehr schnell. Nicht das es in Russland keine Feiertage gäbe, aber sie haben keinerlei Auswirkung auf die Ladenöffnung. Wer Lust hat, sein Geld in Ware umzutauschen, der kann das in Ufa an 366 Tagen im Jahr tun. Einschränkungen dieser simplen Regel sind nur am 1. Januar vereinzelt anzutreffen, wenn Ladenbesitzer es auf Grund der durchzechten Silvesternacht nicht aus dem Bett geschafft haben, oder wenn Chefs in weiser Voraussicht ihren Mitarbeitern für diesen Tag frei gegeben haben.

„Ich bin in 10 Minuten da.“

Dieser Satz ist in Ufa eine sinnleere Floskel, denn es ist in den meisten Fällen völlig unmöglich vorherzusehen, wann man sein Ziel erreicht haben wird. Die Fahrzeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hängt dort von den Launen der Fahrer, dem technischen Zustand der Fahrzeuge und vor allem der aktuellen Verkehrslage ab. Für ein und dieselbe Strecke sind Schwankungen der Fahrzeit um zehn bis fünfzig Minuten keine Seltenheit und über Verspätungen regt sich niemand ernsthaft auf.

Ganz anders dagegen in Halle. Der Fahrplan an der Haltestelle oder der Routenplaner im Internet verraten auf die Minute genau, wann die Straßenbahn an einer Haltestelle ankommen wird. Die Abweichungen betragen im schlimmsten Fall ein mal zwei bis drei Minuten und trotzdem bietet die geringste Verspätung Anlass für ausgeregtes Rentnergeschnatter und allerhand Beschimpfungen des regionalen Verkehrsunternehmens.

Überhaupt scheint Schimpfen, Meckern und Nörgeln in Deutschland Volkssport zu sein. Auf meiner Anreise nach Halle wollte ein Rentnerpaar noch schnell auf einen Regionalzug aufspringen. Omi war schon eingestiegen und Opi kämpfte noch mit Koffer und Bahnsteigkante, als sich die Zugtür zu schließen begann. Natürlich wurde dem Opa von der Tür kein Härchen gekrümmt, denn sie hatte – wie jede andere deutsche Zugtür – ein Sicherheitssystem, dass sie bei jedweder Störung sofort wieder aufspringen lässt. Trotzdem begannen Oma und Opa sogleich damit, sich lauthals über die Unverschämtheit zu echauffieren, dass hier arme alte Leute fast von Zugtüren ermordet werden. Der halbe Wagon stimmte mit ein und man einigte sich darauf, dass man den Zugführer zur Rechenschafft ziehen müsste, wenn er derart verantwortungslos die Türen schließt und dass die Deutsche Bahn ja sowieso der Verursacher grundsätzlich allen Übels sei.

Die Aufregung hatte sich längst gelegt, als eine halbe Stunde später der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle durchkam. Sofort beschwerte sich die Oma über den Beinahe-Exitus ihres Gatten und wenige Sekunden später begann der gesamte Wagon auf den armen Zugbegleiter einzureden. Ich wette, in Russland hätte niemand über einen solchen Vorfall auch nur ein Wort verloren, selbst wenn tatsächlich jemand von einer Zugtür eigeklemmt worden wäre. Man lebt dort einfach ein wenig entspannter.

Sirok und Apfelschorle

Die westliche und die russische Lebensmittelindustrie haben einige Produkte entwickelt, die eigentlich nicht sehr ausgefallen sind, sich trotzdem großer Beliebtheit erfreuen, aber auf der jeweils „anderen“ Seite nicht erhältlich sind. Zwei Beispiele dafür sind Apfelschorle und Sirok. In ufaer Supermärkten gibt es keine Apfelschorle. Ein paar russische Freunde, die in Deutschland einmal Apfelschorle probiert haben, erzählten mir, sie wären erst etwas überrascht gewesen, weil sie dachten, sie hätten normalen Saft gekauft. Von dem Geschmack und der Idee waren sie dann aber doch begeistert.

Genau andersherum ist es mit Sirki. Dabei handelt es sich um eine kleine Süßigkeit – einem Riegel aus Quark mit fruchtiger, schokoladiger und auf jeden Fall süßer Füllung und Schokoglasur. Alle Deutschen die ich kenne und die diese Riegel einmal probiert haben, finden sie unheimlich lecker. Warum also kann man das in keinem deutschen Supermarkt kaufen und warum gibt es in Russland keine Apfelschorle, obwohl diese Dinge doch scheinbar die Gaumen beider Kulturen erfreuen? Es kommt noch hinzu, dass diese Produkte jeweils von Firmen vertrieben werden, deren Lebensmittel man sonst in nahezu jedem Supermarkt auf der ganzen Welt findet – Sirok gibt es von Danone und Apfelschorle von CocaCola.

Käse mit Geschmack

Nicht dass man in Russland nicht gut essen könnte. Die russische Küche ist hervorragend und wer einmal die Gastfreundschaft einer russischen Familie genießen konnte, der wird für den Rest seines Lebens von den Gaumenfreuden schwärmen. Aber ein einfaches Stück Brot oder Brötchen mit Belag ist in Russland schlicht nicht üblich. Dementsprechend ist auch das Angebot an gutem Brot, Käse und Wurst. Die Vorfreude des Poeten auf eine leckere Scheibe dunkeln Brotes, vielleicht sogar mit ein paar Körnern, und obendrauf ein cremiges Stück Camembert, war riesig. Auch die gerade eröffnete Grillsaison lässt das Poetenherz mit echten deutschen Bratwürstchen höherschlagen.

Das Leben in beiden Ländern hat also seine Vor- und Nachteile und wer das eine mag, muss das andere eben lieben lernen.

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